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Analphabeten in Deutschland Analphabeten in Deutschland: Das Kreuz mit dem Lesen und Schreiben

Von Nadine Schwede 07.09.2003, 12:44

Erfurt/dpa. - Wenn der Gothaer Norbert M. im Supermarkt nicht weiß, ob er Vollmilch- oder Zartbitterschokolade in der Hand hält, gibt es für den Analphabeten nur eine Lösung: Öffnen und Reinbeißen. Etwa vier Millionen Erwachsene in Deutschland können Schätzungen zufolge nicht richtig lesen und schreiben, obwohl sie die Schule besucht haben.

Sie entwickeln Strategien, um im Alltag nicht aufzufallen. Arbeit haben nur wenige. Als Schritt aus der Not bieten Volkshochschulen Alphabetisierungskurse an, doch das Angebot ist aber nach Ansicht von Experten in einigen Bundesländern zu klein. Die UNESCO hat den 8. September zum Weltalphabetisierungstag ausgerufen.

   Die meisten Betroffenen sind nach Aussage der Jenaer Professorin für Deutsch-Didaktik, Juliane Köster, keine absoluten, sondern so genannte funktionale Analphabeten. «Sie können Texte teils sogar flüssig lesen, aber sie verstehen den Inhalt nicht.» So scheitern die Betroffenen beim Entziffern des Fahrplans an der Bushaltestelle oder des Beipackzettels zum Medikament, Formulare können sie nicht selbstständig ausfüllen. Weil sie ihre Schwäche nicht preisgeben, gelten nach Ansicht der Wissenschaftlerin viele in der Schule bei den Lehrern schlicht als «die Schlechten». Als Analphabetismus werden ihre Probleme nicht erkannt und somit auch nicht gelöst.

Die Aussichten für das Berufsleben sind düster, sagt der Leiter der Volkshochschule Gotha und Anbieter von Alphabetisierungskursen, Ernst Schnabl: «Einen Ausbildungsplatz bekommen sie vielleicht, aber danach haben sie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt.» Befragungen unter Kursteilnehmern skizzieren ein noch drastischeres Bild: 62 Prozent der Befragten sind ohne Schulabschluss, 71 Prozent haben keinen Berufsausbildung.

Nach Ansicht des Bundesverbandes Alphabetisierung droht sich das Problem noch zu verschärfen: «Selbst wenn die Zahl der Analphabeten gleich bleiben sollte - es gibt immer weniger Berufe, die man mündlich erledigen kann», sagt Verbandsgeschäftsführer Peter Hubertus.

Hilfe gibt es bei den Volkshochschulen. Diese bieten Kurse für Menschen an, die nicht richtig lesen und schreiben können. «Das Problem ist aber, an die Leute ranzukommen», sagt Schnabl von der Volkshochschule Gotha. Fast nie melde sich ein Analphabet aus eigener Motivation an. «Lernen setzen sie aus Erfahrung gleich mit Misserfolg.» Eine wichtige Vermittlerrolle komme daher den Jugend-, Arbeits- und teils auch Gesundheitsämtern zu.

Die deutschen Volkshochschulen stellen nach eigenen Angaben 95 Prozent des gesamten Kursangebots für funktionale Analphabeten. Rund 2000 Kurse legen sie jährlich auf, mit mehr als 18 000 angemeldeten Teilnehmern. Damit hat fast jede dritte Volkshochschule Alphabetisierungsunterricht im Programm. Das sei in einigen Bundesländern zu wenig, findet Verbandsgeschäftsführer Hubertus. Laut einer Übersicht der Volkshochschulen von 2002 sind Bayern, Baden- Würtemberg und Thüringen Schlusslichter. Ein relativ dichtes Netz an Kursen biete Niedersachsen.

   Aus der Sicht vieler Volkshochschulen könnte es durchaus ein größeres Angebot geben. «Fraglich ist jedoch oft, ob sich genügend Teilnehmer melden, damit die Kurse überhaupt zu Stande kommen», sagt die Direktorin des Thüringer Volkshochschulverbandes, Sylvia Kränke. Die Betroffenen seien meist Sozialhilfeempfänger und hätten kein Geld für den Unterricht übrig. Staatliche Zuschüsse für die Kurse seien an eine Mindestanzahl an Teilnehmern gekoppelt.

Hubertus vom Alphabetisierungs-Verband kritisiert, auch ohne die Sicherheit staatlicher Finanzhilfen stünden die Volkshochschulen in der Pflicht, Kurse anzubieten. Private Einrichtungen könnten sich so ein Angebot schließlich gar nicht leisten.