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9. Oktober 1989 in Leipzig 9. Oktober 1989 in Leipzig: Der Weg in die Freiheit

Von andreas montag 08.10.2014, 18:44
«Wir wollen keine Gewalt! Wir wollen Veränderungen!» ist auf einem Transparent zu lesen, welches Demonstranten bei der Montagsdemonstration am 09. Oktober 1989 in Leipzig mit sich führen.
«Wir wollen keine Gewalt! Wir wollen Veränderungen!» ist auf einem Transparent zu lesen, welches Demonstranten bei der Montagsdemonstration am 09. Oktober 1989 in Leipzig mit sich führen. dpa/Archiv Lizenz

Leipzig/Halle (Saale) - Dieser Tag, der 9. Oktober 1989, ist der bedeutendste in der deutschen Nachkriegsgeschichte - nicht einer unter mehreren wichtigen und unbestreitbar emotionalen Tagen, die ihm dann folgten. Der 9. November zunächst, an dem in Berlin die Mauer geöffnet wurde. Und der 3. Oktober 1990 natürlich, an dem die deutsche Einheit offiziell vollzogen wurde.

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Aber all dies wäre nicht - oder nicht so - geschehen, hätten nicht am 9. Oktober 1989 nach dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche 70 000 Menschen ihren ganzen Mut zusammengenommen, um bei einer Demonstration auf dem Leipziger Innenstadtring ihren Freiheitswillen zu bekunden.

So hat es, sinngemäß, auch Joachim Gauck, der Bundespräsident gesagt und sich damit faktisch gegen die Bundesregierung gestellt, die den Mauerfall als das zentrale Ereignis angesehen hat. Nun muss man nicht immer Gaucks Meinung sein, das Polarisieren gehört zu den Tugenden des früheren Rostocker Pastors. Es ist auch nicht wirklich sinnstiftend, auf einer Hierarchie historischer Daten zu bestehen, ein Gezänk darum würde im vorliegenden Fall die Bedeutung der gesamten und beispiellosen Umwälzung nur diskreditieren.

Nicht frei von Angst

Und das kann in keines Gutwilligen Interesse liegen. Gleichwohl sollte unumstritten sein, dass an jenem Abend in Leipzig etwas geschehen ist, das den Lauf nicht allein der deutschen, sondern auch der Weltgeschichte wesentlich beeinflusst hat. Daran werden die Frauen und Männer, die sich damals nicht frei von Angst auf den Weg in die Freiheit gemacht haben, nicht gedacht haben. Aber sie hatten gesehen und erfahren, wie verrottet der von der SED beherrschte Staat in jeder Hinsicht war: wirtschaftlich, politisch, moralisch.

Zu Tausenden waren DDR-Bürger über Ungarn und die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in den Westen gelangt, während die Ost-Berliner Führung immer noch daran glaubte, es würde schon weitergehen mit ihrer Herrschaft. Selbst von Reformen, wie sie der sowjetische Parteichef Gorbatschow eingeleitet hatte, wollten Erich Honecker und seine Genossen nichts wissen.

Auf der nächsten Seite geht es mit den Ereignissen rund um den 9. Oktober 1989 weiter.

Um so größer waren die Wut und die Verzweiflung derer, die nicht länger unter diesen Umständen leben wollten. Also nahmen sie, aller Gewaltandrohungen zum Trotz, ihr Geschick selber in die Hand. Auch an der Leipziger Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit zogen sie vorbei. Und niemand hat an diesem Tag wissen können, ob die SED nicht doch knüppeln oder sogar schießen lassen würde. Ältere dachten an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Und die Erinnerung an die Ereignisse auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking war frisch. Dort hatte die Kommunistische Partei den Protest der Studenten mit Panzern und Gewehren blutig erstickt.

Dass es in Leipzig anders kam, ist vor allem das Verdienst der friedlichen Demonstranten selber, der Kirchen und der christlichen Basis-Initiativen, die schon seit Jahren daran gearbeitet hatten, demokratische Strukturen aufzubauen und gegen den DDR-Staat zu behaupten. Hinzu kommt, dass in Teilen der Führungselite zwar helle Panik herrschte, andere Funktionäre aber wohl begriffen hatten, dass eine gewaltsame Eskalation der Situation unabsehbare, tragische Folgen haben würde.

Eine Tatsache geschaffen

Schnell stand fest, dass mit dem Marsch der 70.000 eine Tatsache geschaffen worden war, die nicht zu verschweigen, nicht zu leugnen und nicht mehr wegzudiskutieren sein würde. Auch vor der Erfindung der sozialen Medien haben sich Dinge rasch herumgesprochen, von der Leipziger Demonstration wusste noch am Abend jeder in der DDR. Und viele, eine überwiegende Mehrheit der Menschen dort hat die emotionale Aufgewühltheit der Leipziger mitfühlen können. Das würde nicht aufhören, es war uns allen klar. Und eine ungeheure Spannung lag plötzlich in der Luft, das graue, verschlafen wirkende Land war aufgewacht.

Vom Mut der Demonstranten ist viel gesprochen worden, dieser Tage wieder vermehrt. Das ist um so wichtiger angesichts des Umstands, dass nicht einmal die Hälfte der Deutschen mit dem „Tag der Entscheidung“ etwas Konkretes verbinden kann, wie eine bundesweite Umfrage von Infratest Dimap im Auftrag der Bundesstiftung Aufarbeitung jetzt ergeben hat.

Zur Erinnerung an den Mut gehört aber auch die an die Angst, die viele von uns viel zu lange gelähmt hatte. Begönnen wir, was seinerzeit im Wirbel der Friedlichen Revolution und ihrer teils dissonanten Folgen untergegangen ist, ein Gespräch darüber - es würde auch die Jüngeren interessieren. Auf die Zivilcourage der Frauen und Männer vom 9. Oktober 1989 aber dürfen wir stolz sein. Nicht nur im Osten. Im ganzen Land. (mz)

Die Demonstration auf dem Leipziger Ring am Abend des 9. Oktober 1989 hat die Geschichte verändert.
Die Demonstration auf dem Leipziger Ring am Abend des 9. Oktober 1989 hat die Geschichte verändert.
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