Wittenberg Wittenberg: Gegen das Wegschauen
WITTENBERG/MZ. - Heinz Geisler hat schon einige hundert Kilometer in den Beinen. In Bayreuth ist er mit seinen Kollegen gestartet. Erschöpft sieht der 51-Jährige trotzdem nicht aus, als er am Marktplatz vom Rad steigt. Der trainierte Polizist aus Wittenberg trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Tu was", er beteiligt sich an der Sternfahrt für mehr Zivilcourage, die die Gewerkschaft der Polizei organisiert hat. Freitagmittag machten knapp 50 radfahrende Polizisten auf dem Weg nach Potsdam in Wittenberg Halt, um ihrem Anliegen, das letztlich ein gesellschaftliches ist, Öffentlichkeit zu verschaffen.
Weggeschaut, ignoriert, gekniffen - solch einem Verhalten begegnen sie viel zu oft, sagt Jörg Bruchmüller, Tourleiter und Polizist aus Nordhessen. Das "Sommermärchen" sei vorbei, der Zusammenhalt lasse zu wünschen übrig. Er spricht von spitzen Ellbogen, einer zunehmenden Polarisierung, von der "Unkultur des Wegsehens". Sei es der schwere Unfall, an dem vorbeigefahren wird, oder die Prügelei, die Passanten nicht zur Kenntnis nehmen. Die Polizisten appellieren, sich einzumischen - ohne selbst in Gefahr zu geraten. "Alle müssen mitmachen. Wir sind auf Hilfe angewiesen", sagt Bruchmüller auf Wittenbergs Marktplatz. Sicherheit sei nicht nur Sache der Polizei, sondern der gesamten Gesellschaft. Und: "Hilfe zu leisten, ist dem Bürger zuzumuten."
Im Dienst sind sie nicht, die rund 150 Polizisten, die auch in Dortmund und Frankfurt Richtung Berlin starteten. Sie nutzen den Urlaub für die Sternfahrt nach Berlin, wo am Samstag am Brandenburger Tor die Abschlusskundgebung stattfindet. Die Aktion ist ihnen wichtig. Wegen des Appells, nicht wegzuschauen, aber auch deshalb, um gegen Stellenabbau zu protestieren. Bruchmüller: "Immer mehr Aufgaben sollen wir uns stellen: Internetkriminalität, Terrorgefahr, organisierte Kriminalität, Stalking. Trotzdem wird eingespart. Die Tour ist auch ein kleiner Hilferuf."
Dass es in Sachen Zivilcourage Unterschiede gibt zwischen Stadt und Land, räumt der Gewerkschafter ein. "Auf dem Land ist das Helfen sicher einfacher und das Wegschauen schwieriger als in der anonymen Großstadt. Dort stellen sich Leute zuweilen bewusst nicht als Zeugen zur Verfügung." Was sind die Gründe für den Trend zur Nichteinmischung: Angst oder Gleichgültigkeit? Bruchmüller nennt es Unsicherheit und die Befürchtung: "Am Ende gibt das bestimmt nur Scherereien."
Heinz Geisler, der Mann aus Listerfehrda, kennt aus seiner Praxis Fälle von mangelnder Bereitschaft, sich einzumischen: "Es wird schwerer, Zeugen zu finden", bedauert er. Das aber sei grundlegend für die Polizeiarbeit. "Wir müssen die Bevölkerung sensibilisieren." Auch dafür, sich rechtzeitig zu melden. Er berichtet von einem Zeugen, der abends einen Apothekeneinbruch beobachtete. Früh ging er zur Polizei. "Hätte er gleich Bescheid gesagt, hätten wir die drei weiteren Einbrüche dieser Nacht vielleicht verhindern können."