Vor 100 Jahren Unruhen und Jubiläum in Wittenberg und Umland
1921 wird auch in den Druckereien gestreikt. Doch zwei Wochen später wird 400 Jahre zurückgeblickt und mit Gottesdiensten und Versammlungen gefeiert.

Wittenberg/MZ
- Der Beginn des April 1921 war geprägt durch die Streikunruhen, die ab Osterdienstag ganz Mitteldeutschland erfasst hatten. Die ersten Ausgaben der Wittenberger Tageszeitungen danach erschienen mit Datum vom 3. April, wie damals üblich am Nachmittag des Vortages, also am 2. April. In der Wittenberger Allgemeinen Zeitung konnten die Bewohner Details über die Vorfälle erfahren.
In mehreren größeren Betrieben wurde am 29. März die Arbeit niedergelegt, auch die Wittenberger Druckereien wurden dazu genötigt. „Obwohl die auswärtigen Blätter hier ungehindert eingeführt und viel verkauft wurden und sogar der Kleinwittenberg-Piesteritzer Anzeiger ungestört erscheinen konnte, war uns das verwehrt“, hieß es.
Überfall in Straach
Am Freitag brachte eine Versammlung von Arbeitgebern, Behörden mit Vertretern der Arbeitnehmer und Streikenden den Durchbruch. „Die Arbeit wird Sonnabend früh wieder aufgenommen“, lautete die Übereinkunft. Die Menschen hier lasen vermutlich mit Schaudern von Überfällen, Toten und Sprengungen in der Provinz Sachsen. Auch in Straach schlugen „bewaffnete Burschen von außerhalb mit Steinen die Tür des Wohnhauses des Herrn Mühlenbesitzers Bölke ein und verlangten von ihm unter Vorhalten von Revolvern die Herausgabe von Waffen.“ Da er solche nicht hatte, verschwanden die Eindringlinge schließlich.
Die bewaffneten Unruhen hatten jedoch noch eine andere Auswirkung auf Wittenberg. „Ein Sonderzug mit etwa 1.300 in den Leunawerken gefangengenommenen aufständischen Arbeitern traf heute vormittag auf der hiesigen Elbtorhaltestelle ein und wurde unter Bewachung durch Schutzpolizeibeamte in mehreren Abteilungen nach den hiesigen Kasernen gebracht“, klärte die Allgemeine am 12. April auf, was auf die Stadt zukam. „Ein weiterer Transport von Gefangenen war bereits Sonntag hier eingetroffen.“ Ab dem 30. April urteilte hier fast täglich ein außerordentliches Gericht aus Halle die Festgenommenen ab.
Fast vergessen waren die Unruhen dann bei der „Wormsfeier“, die vom 17. bis 19. April in Wittenberg stattfand. 400 Jahre zuvor war Martin Luther auf dem Reichstag standhaft geblieben, das wurde gebührend gefeiert. Gottesdienste, Weihefeiern sowie Versammlungen der Luther-Gesellschaft und des Evangelischen Bundes füllten das Fest, über dessen Verlauf beide Blätter ausführlich berichteten.
Zustimmung zur Badeanstalt
Die Stadtverordneten hatten sich Anfang April vor allem mit steigenden Ausgaben zu befassen. Der Verein selbständiger Kaufleute und Gewerbetreibender hatte den Antrag gestellt, die Erhöhung der Gewerbesteuer von 600 Prozent zumindest nicht rückwirkend gelten zu lassen. Dies wurde mehrheitlich abgelehnt. Eine Mehrheit, so die Allgemeine in ihrem Bericht vom 7. April, fand sich hingegen für die Errichtung einer Volksbadeanstalt auf den Angerwiesen. „Unter Verwendung einer jetzt an der Berlinerstraße stehenden Wohnbaracke soll eine Anstalt errichtet werden, die auf Eisenbetonpfeilern hochwasserfrei gestellt wird“, hieß es. Auch die „Herrichtung des Sportplatzes am südlichen Stadtgraben (Einzäunung mit Drahtgeflecht und Eisenbetonpfeilern usw.)“ fand Zustimmung.
Eine neue Omnibus-Verbindung vom Wittenberger Markt bis zu den Stickstoffwerken Piesteritz startete am 6.?April. „Nachdem der frühere Unternehmer des hiesigen Autoomnibusbetriebes, Herr Kaufmann Paul Friedrich während des Krieges unter großen Opfern die Fahrten der allzugroßen Schwierigkeiten wegen aufzugeben gezwungen war, hat die Kraftverkehrs-Gesellschaft m.b.H. Sachsen-Anhalt nunmehr den Betrieb eröffnet“, warb die Allgemeine für die Benutzung der „graugrünen, gutausgestatteten Wagen“.
Der Geist einer neuen Zeit wurde bei einer Meldung des Tageblattes am 3. April spürbar: „Als erste weibliche Friseurgehilfin vor der Wittenberger Barbier- und Friseur-Innung bestand mit Sehr Gut die Tochter des in der Mittelstraße wohnenden Friseurmeisters Günther, Frl. Margarete Günther, die Gehilfenprüfung im Barbier- und Friseurhandwerk. Seit Bestehen der Innung (1720) ist dies die erste Frau, die sich zur Prüfung meldete.“
Ein ganz anderer Zeitgeist wurde vom Tageblatt am 8. April aus Kleinzerbst gemeldet. Sonntagabend war „von unreifen jungen Leuten während des Tanzes am Rheinhardschen Gasthof eine Dynamit-Sprengladung zur Entzündung gebracht, wie sie Waldarbeiter zum Stämmesprengen benutzen. Acht Fenster gingen in Trümmer, mehrere leichte Verwundungen fanden statt. In Merschwitz sollen die Jünglinge dasselbe versucht haben, die Zündung funktionierte jedoch nicht.“
Die Natur erwachte endgültig aus der Winterstarre, was mit der Rückkehr der Zugvögel nach Wittenberg offensichtlich wurde. „Die ersten Störche wurden gestern auf den Durchstichwiesen beobachtet, ebenso die ersten Schwalben am Reinsdorfer Wege“, vermeldete die Allgemeine am 6.?April. Hingegen hieß es am 23.?April im Tageblatt: „Die Nachtigallen sind wieder da! In unseren Anlagen ließen sich gestern früh die angekommenen Nachtigallen wieder vernehmen.“
In Kleinwittenberg wurde am 20. April im „Elbhafen“ ein Unterhaltungsabend veranstaltet. Ziel war es, Geld zugunsten des Denkmalfonds für die Gefallenen zu sammeln. „In einem gestifteten Modell wurde eine Sammlung vorgenommen und damit 270 M. erzielt. Des weiteren konnte mitgeteilt werden, daß bereits hohe Beträge gezeichnet seien (bis zu 1.000 M.), so daß die Ausführung des Planes rüstige Fortschritte macht“, so das Tageblatt am 23.?April.
Auf ein zweifaches Jubiläum in Kemberg wies die Allgemeine am 27. April hin. Fleischermeister G. Krausemann wurde am 23. April nicht nur 75 Jahre alt. „Er feierte sein 50jähriges Meisterjubiläum und außerdem das 25jährige Jubiläum als Obermeister der hiesigen Fleischerinnung“, teilte die Zeitung mit. Aus Gräfenhainichen vermeldete die Allgemeine am 16.?April: „Das Notgeld unserer Stadt ist jetzt fertiggestellt und gelangt zur Ausgabe. Es besteht aus Zehn-, Fünfundzwanzig- und Fünfzig-Pfennigscheinen. Auf der Vorderseite erblickt man eine Aufnahme der Stadt vor der Zerstörung durch die Schweden im Jahre 1637 und ein Siegel vom Jahre 1666, auf der Rückseite ein Bildnis Paul Gerhardts.“
Feuer in Tonwarenfabriken
In Coswig sorgten mehrere Brände für Aufregung. Am 20.?April berichtete das Tageblatt von einem einige Tage zuvor ausgebrochenen Feuer auf dem „Fabrikgrundstück der Tonwarenfabrik Graichen in der Karlstraße. Sämtliche Räume, die Brennhäuser und Werkstatt wurden eingeäschert.“ Am 28. April schrieb das Tageblatt über ein drei Tage zuvor ausgebrochenes Feuer in der Tonwarenfabrik von Weber. Es habe sich „schnell auf alle Räumlichkeiten der Fabrik“ ausgedehnt und alles niedergebrannt. „Der Nachtwächter vom benachbarten Opitzschen Grundstück vernahm kurz vor Ausbruch des Feuers eine heftige Explosion.“