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Bad Schmiedeberg Toter Schüler in Bad Schmiedeberg: Hätte die Gewalttat an 13-Jährigem verhindert werden können?

Von Alexander Baumbach 26.04.2016, 15:21
An dem Berghang, wo der Leichnam des Jungen gefunden wurde, erinnern Blumen und eine Super-Mario -Figur an das Verbrechen, das aufgrund der Gesetze nicht bestraft werden kann.
An dem Berghang, wo der Leichnam des Jungen gefunden wurde, erinnern Blumen und eine Super-Mario -Figur an das Verbrechen, das aufgrund der Gesetze nicht bestraft werden kann. A. Baumbach

Bad Schmiedeberg - „Am Ende ist es überall das Gleiche, am Ende herrscht Ruhe“, flüstert eine ältere Dame auf dem kleinen Dorffriedhof bei Bad Schmiedeberg. Sie steht vor dem Grab von Fabian S. (13), der Anfang März in der Kurstadt ums Leben kam. Aber ist am Ende wirklich Ruhe? Sieben Wochen nach der Tat sind immer noch Fragen offen im Fall Fabian - und Vorwürfe stehen im Raum.

Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelten bis Montag gegen Felix (13), den Klassenkameraden von Fabian aus der 6b der Sekundarschule Bad Schmiedeberg. Er soll Fabian durch einen Schlag auf den Kopf umgebracht haben. Die Ermittlungsakte wurde geschlossen. Wie es zum Tod des Jungen kam, bleibt unklar. Es gibt keine Angaben zum Motiv, zur Tatwaffe. Viele Fragen bleiben vorerst offen - „zum Schutz des Kindes“, so Staatsanwalt Braun.

Hatte die Polizei anfangs noch öffentlich nach dem vermissten Jungen Fabian gesucht, wurde seine Leiche wenig später von einer Hubschrauberbesatzung gefunden. Kurze Zeit später präsentierte die Staatsanwaltschaft dann auch den tatverdächtigen Felix, der seitdem in einer psychiatrischen Einrichtung fern von Bad Schmiedeberg untergebracht ist – auch zu seinem eigenen Schutz. Bad Schmiedeberg ist eine kleine Stadt. Hier kennt jeder jeden. Gerüchte machen in der Kurstadt schnell die Runde.

Felix, der noch nicht schuldfähig ist, soll bei den Vernehmungen nun neue Hinweise auf den Tatverlauf gegeben haben. „Sonst hätte die Polizei ja nichts zu ermitteln gehabt“, erklärt Staatsanwalt Olaf Braun, warum eine angekündigte Presseerklärung zum Fortgang der Ermittlungen nicht abgegeben wurde. Gesucht wurde da etwa noch immer die Tatwaffe.

War es ein Stein, mit dem Fabian der Schädel eingeschlagen wurde? Ein Knüppel? Davon liegen einige an dem Berghang, an dem Fabians Leichnam gefunden wurde. Worüber Felix gesprochen hat, das erzählt der Staatsanwalt jedoch nicht. Worüber er auch nichts sagt: Ob es Ermittlungen gegen das Jugendamt oder die Schule der beiden Jungen gibt. „Darüber habe ich keine Kenntnis“, erklärt Staatsanwalt Braun.

Schrecklicher Verdacht kommt auf

Denn in den vergangenen Wochen ist ein schrecklicher Verdacht in der Schule aufgekommen: Könnte Fabian noch leben, wenn an seiner Schule die nach MZ-Recherchen bereits bei der Einschulung von Felix dokumentierten frühkindlichen Entwicklungsstörungen bekannt gewesen wären?
Die Akte des Jungen wurde nach dem Umzug der Familie von Niedersachsen nach Sachsen-Anhalt an die Bad Schmiedeberger Grundschule übermittelt. Wer ist verantwortlich dafür, dass Felix’ Vorgeschichte  nicht von der Grund- an die benachbarte Sekundarschule weitergegeben wurde?

Denn MZ-Recherchen zufolge erfuhr die Leitung der Sekundarschule erst nach Fabians Tod, wie problematisch die Kindheit seines nicht strafmündigen mutmaßlichen Totschlägers war. Dass Felix in Niedersachsen eine Förderschule besucht hat, bevor er mit seinen Eltern nach Sachsen-Anhalt zog. Dass er zwar intelligent sei, andererseits jedoch erheblich hinter Gleichaltrigen zurückgeblieben war und noch in der Schule Windeln getragen haben soll. Dass er sonderpädagogisch betreut werden musste.

Roland Bette, der Schulleiter der Sekundarschule Bad Schmiedeberg, kommentiert das eher verhalten. „Zurückgeblieben? Nein. Intelligent ist er, und phantasievoll“, beschreibt der Pädagoge den mutmaßlichen Täter.

Die Entwicklung des Jungen ist dokumentiert in Unterlagen über Felix’ erste Schuljahre in Niedersachsen, die erst kürzlich hervorgeholt wurden - sie lagen im Archiv der benachbarten Grundschule. Ihren Inhalt kannten bis vor Kurzem weder Leitung und Kollegium der Sekundarschule, die Felix seit eineinhalb Jahren besuchte, noch das Jugendamt - und wohl auch nicht die Kripo, die die Umstände des tragischen Todes von Fabian ermittelt.
„Wir haben im Nachhinein erfahren, dass der Junge in der Zeit, als die Familie im Raum Hannover lebte, in psychologischer Behandlung war. Aber das sind etliche Kinder auch, die wir hier unterrichten“, relativiert Bette. Weiter möchte er die Entwicklung des Jungen nicht kommentieren – oder warum der Inhalt der Akte erst jetzt ans Tageslicht kommt. „Das unterliegt der Schweigepflicht, da kann ich mich nicht zu äußern.“

Lücke im Schulgesetz

Es bleibt dennoch die Frage, warum nicht alle Informationen über Felix' Vergangenheit beim Schulwechsel von der Grund- an die unmittelbar benachbarte Sekundarschule weitergegeben wurden.
Der Grund liegt in der Art und Weise, wie mit Schülerdaten laut Gesetz umgegangen werden muss. Jeder Grundschüler bekommt in Sachsen-Anhalt ein sogenanntes Schüler-Stammblatt, das aus Datenschutzgründen nur die absolut notwendigsten Daten des Kindes wie etwa die Muttersprache oder die Zeugnisnoten enthält. Sogar die Telefonnummer der Eltern ist nur eine freiwillige Angabe.

Sind in Sonderfällen ergänzende Daten zu Beratungszwecken erforderlich – etwa bei Verhaltensauffälligkeiten oder frühkindlichen Entwicklungsstörungen – sind diese gesondert zu erheben und in einer Sonderakte zu speichern. Besteht ein Förderbedarf über einen Schulwechsel hinaus, dann geht diese separate Akte an die neue Schule - teilweise können die Eltern sogar widersprechen. Fakt ist: Bei Felix endete der Förderbedarf noch während der ersten zwei Schuljahre in Niedersachsen – eine gesetzliche Pflicht zur Weitergabe der Daten bestand also nicht. „Ich habe die notwendigen Sachen bekommen, so wie es vorgeschrieben ist“, sagt Sekundarschulleiter Roland Bette. Ob das, was vorgeschrieben ist, auch ausreicht, das bezweifelt sein Grundschulkollege Harry Pfeifer: „Ich sehe da eine Lücke im Schulgesetz“, erklärt der Pädagoge.
„Die haben beide tatsächlich nichts falsch gemacht“, bewertet Jürgen Krampe, der stellvertretende Direktor des Landesschulamtes das Verhalten seiner beiden Schulleiter. „In jedem Fall ist die Schule nicht berechtigt, solche Daten über das Mindestmaß hinaus von sich aus weiterzugeben. Außerdem besteht keine Verpflichtung, die Eltern zu fragen, ob die Daten weitergereicht werden dürfen.“ Es gebe zwar unter Pädagogen dazu eine rege Diskussion, ob das sinnvoll ist - aber der Datenschutz steht dem entgegen. „Der Schutz der Persönlichkeitsrechte ist ein hohes Gut - und das soll der Datenschutz ja hier erreichen.“

War Tat verhersehbar?

Ob es im konkreten Fall etwas an der Tat geändert hätte, das weisen Pfeifer und Bette zurück. „In jeder Klasse haben wir zwei, drei Kinder, bei denen etwas auffällig ist. Aus solch einer Aktenlage ist es unmöglich zu erkennen, dass mal so ein Vorfall daraus wird“, so Pfeifer. Roland Bette vergleicht den Fall gar mit dem Absturz des Germanwings-Airbus, den ein psychisch kranker Co-Pilot verursacht haben soll. Die Tat habe – trotz psychiatrischer Betreuung – auch niemand vorhersehen können.

Auch Grundschulleiter Harry Pfeifer bemüht sich, den Vorwurf zu relativieren, beim Schulwechsel von der Grund- zur Sekundarschule seien wichtige Erkenntnisse nicht übergeben worden. „Felix war in der Zeit, die er bei uns an der Grundschule war, in keiner Weise auffällig“, erklärt der Pädagoge, der beide Jungs selbst im Unterricht erlebt hat. Freilich habe die Mutter von Felix bei der Anmeldung des Jungen, der ein Jahr älter als seine Mitschüler war, von dessen schulischen Problemen in Niedersachsen berichtet. „Er soll dort von seinen Mitschülern nicht verstanden worden sein“, umschreibt Pfeifer die schulischen Probleme des Jungen. Das habe sich auch in den Unterlagen gespiegelt, die der Bad Schmiedeberger Grundschule aus Niedersachsen zugeschickt wurden.

Er beschreibt Felix als überdurchschnittlich leistungsfähig. Er sei in die Klasse integriert gewesen, obwohl er doch erst in der dritten Jahrgangsstufe dazu kam. „Er suchte den Kontakt zu seinen Mitschülern und auch zu Lehrern, war aber doch mehr Einzelgänger als Fabian. Der war zugänglicher, aber der war ja auch schon länger bei uns“, erzählt Pfeifer über die Jungs, die er im Bus zum Sportunterricht in die Pretzscher Turnhalle oft begleitet hat.

Fabian wurde vor anderthalb Wochen in einem Vorort von Bad Schmiedeberg beigesetzt. Zwischen sanften Hügeln, neben einem langsam in Blüte stehenden Rapsfeld liegt von Blumen umgeben eine Grabplatte für den Jungen, der nur 13 Jahre alt wurde. Seine Mitschüler haben Fabian ein  Gebinde gebracht. Zwei Stühle in der Klasse werden ab jetzt leer bleiben. „Am Ende herrscht Ruhe“, sagt die ältere Dame nachdenklich, schüttelt den Kopf und geht. (mz)

Mehr zum Fall unter:mz-web.de/badschmiedeberg