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Kampf um jeden Halm Kampf um jeden Halm: "Natura 2000"-Verordung stellt Landwirte vor Probleme

Von Steffen Höhne 09.01.2019, 09:00
Mehrere Verbände aus dem ländlichen Raum demonstrierten dort gegen die Umsetzung des europäischen Artenschutzprojekts „Natura 2000“ in Sachsen-Anhalt.
Mehrere Verbände aus dem ländlichen Raum demonstrierten dort gegen die Umsetzung des europäischen Artenschutzprojekts „Natura 2000“ in Sachsen-Anhalt. dpa-Zentralbild

Wittenberg - Der Regen in den vergangenen Wochen hat auch der Elbaue vor den Toren Wittenbergs sichtlich gut getan. Das Gras ist wieder ergrünt. Der Landwirtschaftsbetrieb Selbitz bewirtschaftet in der Region 440 Hektar Grünland. Die Flächen liefern einen Großteil des Futters, das die Genossenschaft für ihre 1.800 Milchkühe und Jungrinder benötigt.

Der Betrieb gehört zu den großen Milchproduzenten der Region, doch Landwirt Maik Bilke ist nicht sicher, ob das langfristig so bleibt. Nicht der Milchpreis oder die Dürre des Sommers 2018 beschäftigen den Vorstandschef aktuell, sondern die neue Naturschutz-Richtlinie Natura 2000 des Landes Sachsen-Anhalt, die elf Prozent der Landesfläche erfasst. Bilke spricht von einem „Bürokratie-Ungetüm“.

Hälfte von Bilkes Grünland liegt in Naturschutzgebiet

Von den 440 Hektar Grünland (das entspricht etwa 660 Fußballfeldern) des Betriebes liegt mehr als die Hälfte in Schutzgebieten entlang der Elbe. Das ist bereits seit dem Jahr 2000 so. Damals wurden die sogenannten Fauna-Flora-Habitat-Gebiete (FFH) ausgewiesen. Es handelt sich häufig um Naturschutzgebiete.

Auf den Milchviehbetrieb wirkte sich das aber kaum aus. Er konnte in den Auen laut Bilke weiter drei Mal im Jahr (Mai, Juni, September) mähen und Gülle als Dünger ausbringen. „Das ändert sich nun“, sagt der Landwirt. Einige besonders ausgewiesene Flächen in dem Gebiet dürfen gar nicht mehr gedüngt werden, andere nur noch eingeschränkt. Dadurch dezimiert sich die Ernte beträchtlich. „Unsere Kreislaufwirtschaft wird unterbrochen.“

Auf geschützten Flächen darf nur noch ein Drittel der jetzigen Düngemenge ausgebracht werden

Der 47-Jährige legt eine große Karte auf den Tisch mit weiß eingefärbten Schutzgebieten. Nochmals grün eingefärbt sind Gebiete, die unter besonderem Schutz stehen. Bilke zeigt auf eine knapp ein Hektar große Fläche. „Das ist eine Magere-Flachland-Mähwiese.“ Welche schützenswerten Gräser oder Blumen darauf wachsen, weiß er nicht. „Die Bewirtschaftung hat den Pflanzen in der Vergangenheit aber offenbar nicht geschadet, sonst wäre es jetzt kein besonderes Schutzgebiet.“ Doch die Teilflächen sind nicht sein Problem: „Wenn seltene Pflanzen oder Tiere bedroht sind, dann sollten wir sie auch schützen.“ Der Landwirt, der auch dem Stadtrat in Kemberg angehört, ist für Naturschutz. Ihm und anderen Landwirten in der Elbaue schlägt aber auf den Magen, dass auf den anderen geschützten Flächen nur noch ein Drittel der jetzigen Düngemenge ausgebracht werden darf. „Wir werden dadurch deutlich weniger mähen“, sagt er. Für die Ernteausfälle zahlt das Land künftig einen Ausgleich. Doch nach seiner Berechnung deckt der nur die Hälfte der Ausfälle.

Das Agrar-Unternehmen machte daher eine Eingabe beim Landesverwaltungsamt. „Die dortigen Mitarbeiter haben für unsere Probleme ein offenes Ohr“, berichtet der Landwirt. Da ein großer Teil der Grünlandflächen der Genossenschaft in Schutzgebieten liegt, kann der Betrieb eine Härtefall-Regelung in Anspruch nehmen. Das heißt, er darf mehr düngen, bekommt aber keine Ausgleichszahlungen. Doch auch hier gibt es aus Sicht des Landwirtes neue Probleme: „Die Ämter können die Regelungen einseitig kündigen, wenn Schutzziele verfehlt werden.“ Doch was heißt das? Muss der Landwirt künftig dafür gerade stehen, wenn die Dürre im Sommer seltene Pflanzen vernichtet?

Die Verordnung Natura 2000 gilt in Sachsen-Anhalt für 266 Fauna-Flora-Habitat-Gebiete (FFH-Gebiete) und 32 Vogelschutzgebiete. Diese umfassen etwa elf Prozent der Landesfläche. Das größte Natura-2000-Gebiet im Land ist die Colbitz-Letzlinger Heide mit ihren ausgedehnten trockenen Zwergstrauchheiden sowie Eichenwäldern. Zu den Schutzgebieten gehören aber auch die Porphyrkuppenlandschaft nordwestlich von Halle oder die Buntsandstein- und Gipskarstlandschaft bei Questenberg im Landkreis Mansfeld-Südharz.

Geschützt werden bestimmte Arten und Lebensraumtypen. Zu den Lebensraumtypen von europäischer Bedeutung zählen beispielsweise Auenwälder, Hochstaudenfluren in den Flussauen und Berg-Mähwiesen. Die in den Anhängen der Richtlinie aufgeführten Tier- und Pflanzenarten sind selten, bedroht oder kommen nur in einem kleinen lokalen oder regionalen Verbreitungsgebiet vor.

Bisher sind in Sachsen-Anhalt mehr als 160 Tier- und Pflanzenarten von europäischer Bedeutung bekannt. Zu den gefährdeten Arten zählen unter anderem Biber, Großes Mausohr, Fischotter, Laubfrosch, Hirschkäfer sowie Frauenschuh und Sand-Silberscharte.

Die Verordnung zu Natura 2000 umfasst 816 Seiten. Für die Einhaltung und Überprüfung sind die Landkreise zuständig. Für stark betroffene Land- und Forstwirte gibt es Härtefall-Regelungen.

››Es gibt im Netz eine interaktive Karte, in der die Schutzgebiete in Sachsen-Anhalt ausgewiesen sind:

www.mz.de/natura

GPS für Mähfahrzeuge

Selbst der Naturschutzbund Sachsen-Anhalt (Nabu) räumt ein, dass solche Fälle im Regelwerk bisher kaum bedacht sind. Auch Nabu-Sprecherin Annette Leipelt bezweifelt, dass „die Verordnungen in der Praxis umsetzbar sind“. Die Umweltschützer befürchten allerdings, dass das komplizierte Regelwerk - etwa durch Ausnahme-Regelungen - zu viele Schlupflöcher bietet. Kurz: Der Nabu fürchtet zu wenig Naturschutz.

Die Landwirtschaftsverbände kritisieren vor allem, dass der finanzielle Ausgleich nicht gesetzlich geregelt ist. Bauernpräsident Olaf Feuerborn sagt: „Wenn Natura 2000 als Generationenwerk in ländlichen Raum funktionieren soll, können Ausgleichszahlungen keine Beliebigkeit kommender Landesregierungen sein.“ Der Verband weist darauf hin, dass die EU die Umsetzung von Natura 2000 bei „größtmöglicher Einbeziehung der Beteiligten und gesicherte Finanzierung will“. Das sieht der Bauernverband nicht gegeben. Hunderte Bauern protestierten daher am Dienstag in Magdeburg.

Der Landwirtschaftsbetrieb Selbitz stellt sich nun auf Natura 2000 ein. „Als erstes müssen wir alle Dünge- und Mähfahrzeuge mit GPS ausrüsten“, sagt Bilke. Denn nur so könnten die Erntearbeiter wissen, um welche Flächen sie einen Bogen fahren müssen. Der Landwirt beziffert die Kosten pro Fahrzeug dabei auf 5 000 bis 6 000 Euro. „Wir müssen sehen, wie sich das neue Regelwerk in der Praxis auswirkt.“ Finanzielle Ausfälle müssten an anderer Stelle im Betrieb kompensiert werden. Und wenn das nicht reicht? Bilke zuckt mit den Achseln: „Dann müssen wir die Viehbestände verkleinern.“ (mz)

Das Grünland des Milchviehbetriebes Selbitz liegt in den Elbauen vor den Toren Wittenbergs. Im Hintergrund ist das große Düngemittelwerk von SKW Piesteritz zu sehen.
Das Grünland des Milchviehbetriebes Selbitz liegt in den Elbauen vor den Toren Wittenbergs. Im Hintergrund ist das große Düngemittelwerk von SKW Piesteritz zu sehen.
Thomas Klitzsch