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Kam der Rettungswagen zu spät? Kam der Rettungswagen zu spät?: Vorwürfe an Leitstelle nach Tod 80-Jähriger in Wittenberg

Von Michael Hübner 09.05.2014, 10:53
Rettungswagen vor einem Krankenhaus
Rettungswagen vor einem Krankenhaus Wölk/Symbol Lizenz

Wittenberg/MZ - Die 80-jährige Erna J. stirbt am Mittwochnachmittag im Krankenhaus. Die Ärzte kämpfen tagelang vergebens um das Leben der Rentnerin. Darüber informiert Birgit Münster weinend die MZ und erhebt schwerste Vorwürfe gegen die Kreisverwaltung. Die Tragödie beginnt bereits am Samstag um 17.30 Uhr. Münster ahnt da schon nichts Gutes, als sie im Hausflur Unangenehmes aus einer Wohnung riecht. Die 55-Jährige kennt die Bewohnerin. Sie schaut oft nach der 80-Jährigen, weil deren Tochter in Jüterbog wohnt, und hat deshalb einen Schlüssel. Sie findet die Seniorin - eine sonst rüstige Rentnerin - hilflos vor. Der Versuch, den Blutdruck zu messen, scheitert. „Das Messgerät zeigte keinen Wert mehr an“, berichtet die Wittenbergerin. Der Blutzucker lässt sich aber ermitteln: 28,2. Ein dramatischer Wert, weil die Diabetikerin zuletzt unterzuckert gewesen ist. „Mir war sofort klar, dass es sich hier nicht um einen Schnupfen handelt, sondern um einen Notfall“, so Münster.

Dramatischer Wettlauf mit der Zeit

Es beginnt ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit und das verzweifelte Warten auf ärztliche Hilfe. Dabei reagiert die Verkäuferin völlig richtig: Sie wählt den Notruf 112. Aber der Mann am anderen Ende der Leitung sei „unfreundlich und patzig“ gewesen, berichtet Münster. Die Tipps des Disponenten der Leitstelle des Landkreises helfen nicht weiter. „Ich sollte die Frau selbst ins Krankenhaus fahren oder die 116117 anrufen“, so Münster. Im Klartext: Der Mitarbeiter der Kreisverwaltung fühlt sich nicht zuständig und verweist auf den Bereitschaftsdienst der Ärzte. Doch die bundeseinheitliche Rufnummer hat ihre Tücken.

„Ich landete in einem Call-Center und sollte mit einem Doktor verbunden werden. Aber plötzlich hörte ich ein Besetzzeichen“, so Münster, die es deshalb mit der in der MZ täglich veröffentlichen Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes versucht. „Es sprang nur die Mailbox an“, schildert sie weiter. Also ein erneuter Versuch bei der 116117: „Endlich konnte ich eine Ärztin sprechen“, so die 55-Jährige. Doch die Hoffnung auf Hilfe weicht großer Enttäuschung: „Die Medizinern erklärte mir, sie sei für Piesteritz zuständig, aber nicht für die Wittenberger Lerchenbergstraße.“ Die Frau gibt nicht auf und wählt nun wieder die 112. „Ich sehe, Sie sind mit der Situation überfordert“, kommentiert laut Münster der Mann in der Leitstelle, der aber nun doch den Rettungswagen auf die Reise schickt. „Ich hatte nicht die Nerven, um auf die Uhr zu schauen“, so Münster, die einschätzt, das es mindestens 15, maximal 30 Minuten waren. Es sei aber eine gefühlte Ewigkeit gewesen. Zu allem Überfluss findet das Rettungsteam nicht sofort die Adresse, weil am großen Wohnblock - der Eigentümer hat das nach eigenen Angaben sofort geändert - sich nicht überall Hausnummern befinden. Jetzt geht es schnell. „Die Sanitäter waren sehr freundlich. Mit Blaulicht ging es nach wenigen Minuten ins Krankenhaus“, so Münster. „Der alten Dame wurde sofort ein externer Herzschrittmacher gesetzt. Die Diagnose ist Nierenversagen“, berichtet sie.

Das Landratsamt dementiert die Darstellung nicht. Ronald Gauert bestätigt, dass zwei Notrufe nötig waren, um für den Rettungswagen grünes Licht zu geben. Der Pressesprecher gibt aber zu weiteren Details keine Auskunft. Dabei scheint eine Auswertung der Ereignisse problemlos möglich. Schließlich werden Notrufe aufgezeichnet. „Einen Einblick in die Dokumentation ist nicht so einfach machbar - auch nicht für den Landrat“, behauptet Gauert und nennt unter anderem dafür Datenschutzgründe.

Zumindest bei der Polizei läuft das unkomplizierter. Die 110 laufe zwar in Dessau auf, aber der Wittenberger Revierleiter habe natürlich Zugriff, verrät eine Beamtin.

Lesen sie auf der nächsten Seite die Reaktion der Kassenärztlichen Vereinigung, des Landrates und andere Erfahrungen mit der Leitstelle („Ich dachte, er muss sterben“).

Eine Tücke im System

Während sich die Verantwortlichen in der Wittenberger Kreisverwaltung eher wortkarg geben, wird bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) trotz der Tragödie Klartext gesprochen. So werde der Anrufer der bundeseinheitlichen Rufnummer geortet. Dass Frau Münster trotzdem mit einer nicht zuständigen Ärztin verbunden wird, ist eine Wittenberger Besonderheit. Unter der Postleitzahl gibt es eben nicht nur einen Bereitschaftsarzt - und so kommt es zur Fehlschaltung. Eine neue Struktur, die zum 1. Oktober in Kraft tritt, soll Abhilfe schaffen.

Über den Hickhack von Zuständigkeiten will Landrat Jürgen Dannenberg (Linke) am „Rande eines Gesprächs“ mit der KV bereits verhandelt haben. „Da ging es aber nicht um Wittenberg, sondern um einen Bereitschaftsarzt im Kreis, der seine Rufumleitung auf die Leitstelle geschaltet hatte. Das geht nicht. Das wurde bereits geändert“, erklärt KV-Hauptgeschäftsführer Martin Wenger. Dies habe aber mit den aktuellen Ereignissen überhaupt nichts zu tun.

Rettungseinsatz wird verweigert

Tatsächlich steht die Leitstelle nicht das erste Mal unter Kritik. „Ich wünsche wirklich niemandem, solche Minuten erleben zu müssen“, sagt eine Gräfenhainichenerin. Ihr ist genau das Gleiche passiert. Es geht um ihren Sohn. „Ich dachte, er muss sterben“, erinnert sie sich an die dramatische Situation, als die Leitstelle den von ihr geforderten Rettungseinsatz einfach verweigert. „Zum Glück kenne ich eine Ärztin privat, die hat meinen Sohn gerettet“, so die Frau. Es geht um einen Magendurchbruch. Der Fall löst im Kreistag Debatten aus. Die Politiker fordern medizinische Schulungen - die sind laut Gauert erfolgt - der Disponenten. „Ich ärgere mich heute, dass ich keine Strafanzeige gestellt habe. Ich habe mir den Tonbandmitschnitt meines 112-Notrufes aushändigen lassen und habe eine Dienstaufsichtsbeschwerde geschrieben. Die blieb aber wirkungslos“, so die Mutter.

Sollte die Leitstelle die Tücken mit der bundeseinheitlichen Nummer in Wittenberg kennen, dann könnte im aktuellen Fall laut einer Juristin ein Straftatbestand vorliegen. Die Anwältin spricht von „Körperverletzung im Amt durch Unterlassung.“ Das wäre dann ein Fall für den Staatsanwalt.

Münster kämpfte am Telefon um Hilfe.
Münster kämpfte am Telefon um Hilfe.
Thomas Klitzsch Lizenz