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Eingeholt von Vergangenheit

Von Marcel Duclaud 13.09.2007, 18:13

Wittenberg/MZ. - Weniger bekannt freilich sind die Ursprünge der Siedlung. Die dürfen nicht verschwiegen werden, befindet der Wiwog-Chef und hat daher die Ausstellung, die im Sommer die Aufführungen des Musicals "Cabaret" begleitete (die MZ berichtete), jetzt in die Wiwog-Geschäftsstelle geholt. Der Bau der beliebten Gagfah-Siedlung nämlich ist eng verbunden mit der Rüstungsproduktion der Nazis. Die Wohnungen wurden 1937 binnen eines Jahres hochgezogen, um den Beschäftigten der Arado Flugzeugwerke Unterkunft zu bieten.

Bei Arado aber sind wir bei einem ganz heiklen Kapitel der Stadtgeschichte, das von tausenden KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern, von Misshandlung und Mord handelt und jahrzehntelang unter den Teppich gekehrt wurde. Befremdlich beim Anspruch der DDR-Offiziellen, die Nazi-Diktatur lückenlos aufzuarbeiten und sowieso das bessere Deutschland zu sein. Weshalb Renate Gruber-Lieblich, die übrigens selbst in der Gagfah-Siedlung lebt, sagt: "Das war kein Glanzstück der DDR. Es hat mich betroffen gemacht, in dieser Stadt groß geworden zu sein und nichts gewusst zu haben." Chemiearbeiterstadt ja, aber ein Flugzeugwerk?

Das Thema hat die Wittenbergerin seither nicht mehr los gelassen. Es ist ihr Verdienst, dieses offenbar gerne vergessene Stück Geschichte ins öffentliche Bewusstsein gehievt zu haben. Sie ist durch die Archive des wiedervereinigten Landes gezogen und hat die Details zusammengetragen. Im Rüstungsarchiv Potsdam etwa stieß Frau Gruber-Lieblich auf eine Notiz, wonach das Reichsluftfahrtministerium ein Darlehen für den Bau der Gagfah-Siedlung gewährt hat. Sie recherchierte auch, dass ursprünglich an der Wendel ein Hafen geplant war und bei Apollensdorf die Elbe begradigt werden sollte: "Damit die Flugzeugteile aus Wittenberg schnell zu den Junkers-Werken nach Dessau kommen."

Dass die Arado-Werke auf erhebliches Interesse stoßen und mancher ganz persönliche Erinnerungen an diese Zeit hat, zeigte die gut besuchte Ausstellungseröffnung im Wiwog-Haus in der Sternstraße. Eine alte Dame, die ihren Namen nicht in der Zeitung sehen möchte, berichtet von ihrem Vater, der einst in der Arado-Verwaltung gearbeitet hat, sie durfte damals im Werk Tennis und Hockey spielen. Gerhard Seidemann aus Kemberg hat im April 1944 im Alter von 14 Jahren als Lehrling bei Arado angefangen. Er erinnert sich noch an den Luftangriff im Sommer 1944, bei dem viele russische Kriegsgefangene ums Leben kamen, weil sie nicht in Deckung gehen durften. Gesehen hat er auch die Zählappelle und wie Häftlinge mit einer Peitsche geschlagen wurden.

Die Schautafeln der Ausstellung - für den Inhalt zeichnet Renate Gruber-Lieblich verantwortlich - geben sachlich Auskunft über die Entstehung des Arado-Werkes, über Wittenberg in der Hitler-Zeit ("eine vorbildliche nationalsozialistische Stadt"), über die Produktion (hergestellt wurden Teile für die Ju 88, die He 111 H, die Ar 96), über den humanen und beliebten Betriebsleiter Kurt Dunkelmann, der 1942 strafversetzt wurde, an seine Stelle rückte Ernst Schmaedig, über den ein Arado-Werker sagte, der sei kein Mensch, sondern ein Vieh. Und natürlich über das Leid der Zwangsarbeiter, der Kriegsgefangenen und der Ravensbrücker KZ-Frauen in den Lagern am Mittelfeld und Mutzschken. Die Schau macht überdies deutlich, dass noch längst nicht alles gesagt ist über Arado und Wittenbergs KZ-Lager.

Arado-Flugzeugwerk, Ausstellung im Wiwog-Haus in der Sternstraße 4, geöffnet von Montag bis Donnerstag 8 bis 17 Uhr, Freitag 8 bis 13 Uhr.