Aufarbeitung Aufarbeitung : Reinsdorfer Werk mit zwiespältiger Geschichte

Wittenberg - Von einem „weißen Fleck“ in der Stadtgeschichte spricht Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Er meint die Wasag, die Westfälisch-Anhaltische Sprengstoff-Actien-Gesellschaft, die bekanntlich in Coswig und Reinsdorf Ansiedlungen unterhielt.
Die Rede ist von einem bedeutenden Unternehmen, vom einst wichtigsten Produzenten von Sprengmitteln für den zivilen und militärischen Bereich in Deutschland. Eines, um das sich Mythen ranken, von dem nicht viel bekannt ist. Das soll sich ändern mit dem Aufbau eines Informations- und Dokumentationszentrums in diesem Jahr.
186.000 Euro an Fördermitteln stellt die Europäische Union dafür bereit. Haseloff will sich vor Ort über den Stand der Dinge informieren.
Die Kosten für das Gesamtvorhaben, ein Wasag-Informations- und Dokumentationszentrum dort aufzubauen, wo das Unternehmen einst angesiedelt war, belaufen sich auf rund 248.000 Euro. Ein Teil davon, 186.000 Euro sind Fördermittel.
Nach den Worten von Joachim Zander soll eine Art Museum mit einer multimedialen Ausstellung entstehen samt Vortragsraum, Archiv und Arbeitsräumen. Das Pförtnerhaus und Teile der einstigen Ambulanz des Krankenhauses Apollensdorf-Nord werden zu diesem Zweck umgebaut und instandgesetzt.
Die Rede ist von Dacherneuerung, Fliesen- und Trockenbauarbeiten sowie Tischler- und Malerarbeiten. Heizung und Sanitärinstallationen werden erneuert und ein Besucherparkplatz eingerichtet. Das Projekt soll bis September 2020 abgeschlossen sein.
Für ein weiteres Vorhaben des Geschichts- und Forschungsvereins Wasag wird noch auf die Genehmigung gewartet. Ein touristischer Geschichtslehrpfad „auf den Spuren der Wasag“ soll entstehen und unter anderem die Entwicklung der früheren „Kolonie und Siedlung Reinsdorfwerke“ zeigen.
Erst seit 1906 existiere die Siedlung, so Zander: „Vorher stand hier nichts.“ Mit Hilfe von Tafeln sollen die Etappen der Entwicklung erläutert werden.
Der Mangel an Informationen über die Wasag in der Region hat verschiedene Gründe. Einer dürfte damit zu tun haben, dass der Betrieb nach dem zweiten Weltkrieg beschlagnahmt wurde von der russischen Besatzungsmacht und wesentliche Teile als Reparationsleistung in die damalige Sowjetunion transportiert wurden. „Bis hinter Moskau“, bemerkt Joachim Zander, „aufgebaut wurde es nie wieder.“
1947, berichtet der Chef des Geschichts- und Forschungsvereins Wasag, der sich seit Jahren mit der Unternehmensgeschichte befasst, der in 45 Archiven in der gesamten Bundesrepublik Material zusammentrug und nach eigenen Angaben rund 50.000 Euro privat investierte im Rahmen der Recherchen „war das alles nur noch ein Trümmerhaufen“.
Eine mutige Nudersdorferin habe damals die Sprengung der Gebäude verhindert, die später die Basis für das Krankenhaus Apollensdorf-Nord bildeten, in dem Zander als Technischer Direktor tätig war.
Der „weiße Fleck“ soll nun getilgt werden. An Material und Wissen besteht inzwischen kein Mangel. Der Verein verfügt über Fotos, originale Unterlagen und Aktien, Bau- und Lagepläne, Informationen über die Patente, die einst eingereicht wurden. Zander betont, dass zu Hochzeiten 14.000 Menschen in Reinsdorf für die Wasag schafften: „Gut bezahlte Arbeitsplätze.“
Mit Coswig zusammen fanden bei dem Sprengstoffproduzenten zeitweise rund 16.000 Menschen einen Job. Der Experte hebt die ungewöhnlichen sozialen Leistungen hervor, die die Wasag bot, um qualifizierte Mitarbeiter zu halten. Auf das Unternehmen gehen nicht zuletzt das Kulturhaus Gesundbrunnen, die Schule in Apollensdorf und zahlreiche weitere Gebäude zurück.
Ein modernes wissenschaftlich-technisches Zentrum bildete das Unternehmen außerdem. „Die Grundlagen für die Raketenantriebstechnik wurden in Reinsdorf gelegt.“ Zander spricht von einem „wichtigen Kapitel deutscher und Wittenberger Industriegeschichte - mit Licht- und Schattenseiten.“
Genau letztere machen das Vorhaben nicht leichter. Die Wasag bei Wittenberg war zweifellos ein kriegswichtiges Unternehmen. Darauf weist Haseloff bei seinem Besuch ausdrücklich hin. „Hier darf kein Wallfahrtsort entstehen, hier wurden Kriege vorbereitet. Durch die Produkte der Wasag ist viel Leid in die Welt gekommen. Es darf keine Mystifizierung geben. Das ist eine herausfordernde Aufgabe.“
Zander versichert, dass es dem Verein genau darum gehe - um Aufklärung: „Wir wollen keinen Wallfahrtsort.“ Es gehe um beides, um die Gegenüberstellung von gut bezahlten Arbeitsplätzen und der Rolle, die das Unternehmen in den beiden Weltkriegen spielte.
In Friedenszeiten, so Zander, habe das Verhältnis von zivilen und militärischen Produkten etwa bei 60 zu 40 gelegen, in Kriegszeiten aber bei 13 zu 87.
Im Übrigen, auch daran erinnert der historisch versierte Ministerpräsident, sei das riesige, mehrere Quadratkilometer große Betriebsgelände nie bombardiert worden. Der Grund ist relativ einfach. Die Aktiengesellschaft soll auch englische und amerikanische Anteilseigner gehabt haben.
Apropos Aktien: Laut Zander zahlte die Wasag stets eine üppige Dividende - „nie unter acht Prozent. Manchmal, zu Kriegszeiten bis zu 25 Prozent.“ (mz)