Adventskalender Adventskalender Wittenberg: Christina Korselt ist "aufgeblüht" in Luthers Predigtkirche

Wittenberg - 3000 Bruttoregistertonnen hatte die MS Falke. Am 13. März 1975 ist die Wittenbergerin Christina Korselt auf diesem Handelsschiff von Rostock nach Riga aufgebrochen. Es war die erste Fahrt für Korselt, die nach der Schule eine Ausbildung zur Kellnerin im Pratauer „Freischütz“ absolvierte und sich anschließend als Stewardess bei der Deutschen Seereederei Rostock beworben hat.
Bei ihrer Premiere auf hoher See war auch ein Reporter der DDR-Illustrierten „Freie Welt“ an Bord. Seine Reportage überschrieb er mit dem Titel „Rechtsrum geht’s nach Riga“. Korselt hat ein Belegexemplar aufbewahrt, „das bin ich“, sagt sie und tippt auf ein Foto. Es zeigt eine junge Frau mit Schwimmweste zusammen mit anderen Mannschaftsmitgliedern in einem Rettungsboot bei einer Seenotübung.
Anknüpfungspunkte in der Wittenberger Stadtkirche
Wer heute die Wittenberger Stadtkirche besucht und - zum Beispiel - am Empfangs- und Verkaufstresen auf Christina Korselt trifft, ahnt von deren aufregender Vergangenheit natürlich nichts. Die Besucher stehen einer schlanken Frau mit kurzem Haar gegenüber, die ausgesucht freundlich ist und auch gern Fragen beantwortet. Manchmal ergebe es sich, wenn Touristen etwa aus Amerika da sind, dass Korselt sagt, da und dort sei sie auch schon gewesen.
Das sind Anknüpfungspunkte - jenseits von Themen zur Geschichte des Sakralbaus, in die sie sich eingearbeitet hat, oder gar von Glaubensfragen. Einer Konfession gehört Korselt nicht an, sie sei auch nicht „gläubig“. Dass sie nun trotzdem Dienst in Martin Luthers einstiger Predigtkirche tut, hat mit dem örtlichen Jobcenter zu tun.
Das hatte an einem Donnerstag im Juli dieses Jahres bei der arbeitssuchenden Hartz-IV-Bezieherin angerufen und erklärt, sie möge sich am 11. des Monats im Rahmen eines Ein-Euro-Jobs in der Stadtkirche einfinden. Dass es so schnell ging habe verhindert, „dass ich in Selbstzweifel fiel“, erinnert sich Korselt. Um 10 Uhr am 11. Juli stand sie also auf der Matte. Begrüßt wurde sie von Kirchmeister und Luther-Darsteller Bernhard Naumann mit den Worten, „unsere Kirche hat 365 Tage im Jahr geöffnet“.
Auch an Sonn- und Feiertagen, womit Korselt, in deren Vertrag stehe, sie sei als Touristikassistentin beschäftigt, kein Problem hat. Sie wird auch Heiligabend und am ersten Feiertag arbeiten. Und tatsächlich scheint sie in dem, was sie macht, ganz aufzugehen. Ihre Aufgaben reichen vom Anzünden der Kerzen in der Kirche, was jetzt in der Vorweihnachtszeit mit ihrem Lichterglanz und dem imposanten Wichern-Adventskranz schon mal etwas länger dauern kann, über die Arbeit am Verkaufsstand bis hin zur Betreuung der Besucher.
Auf den Tisch kommt zu Heiligabend Kartoffelsalat mit Würstchen. An den Feiertagen gibt es Kaninchen mit Grünkohl wie früher bei meiner Mutter, jetzt macht das mein Bruder.
Weihnachten bedeutet für mich, dass ich es zu Hause gemütlich mache. Ich schreibe auch wieder gern Weihnachtsgrüße.
Nicht verzichten möchte ich darauf, den Kontakt zu Freunden zu pflegen, die ja auch für einen da sind.
Die größte Weihnachtskatastrophe wären gesundheitliche Probleme, denn dann könnte ich nicht arbeiten und meine Kollegen hier in der Kirche könnten nicht frei machen. (mz/cni)
„Im Vordergrund steht für mich der Gast“, sagt Korselt, und: „Er soll zufrieden wieder rausgehen.“ Beinahe noch lieber als darüber spricht sie, die in diesem Jahr 60 wurde, über ihr früheres Leben, als sie über die Weltmeere fuhr und ferne Länder ansteuerte, von denen der typische DDR-Bürger bloß träumen konnte, weil sich die Grenzen für ihn nicht öffneten. Es gab allerdings auch Fälle, wo sie nicht von Bord durften - in Südafrika, „das keine Handelsbeziehungen zur DDR unterhielt“. Unterwegs war Korselt - bald im Rang der Oberstewardess - in der Regel zwischen einem Monat und einem halben Jahr.
Die längste Fahrt dauerte exakt sechs Monate und 24 Tage, Korselt kann das alles noch genau nachvollziehen, denn nach wie vor hat sie die meisten ihrer Seefahrtsbücher. Sie gehörte zur Mannschaft auf Handels- und Frachtschiffen, die letzte Dienstfahrt führte sie am 7. Januar 1993 von Rotterdam nach New Orleans. Elf Tage habe die Überfahrt auf dem Schüttgutfrachter Premnitz gedauert. Die Rückreise von der Südstaatenmetropole der USA wurde mit dem Flugzeug absolviert, weil, wie Korselt erklärt, das Schiff verschrottet werden sollte.
Letzte Fahrt vor über 20 Jahren
Damals wusste sie bereits, dass es ihre letzte Fahrt sein würde. Die Reederei in ihrer bis dahin geführten Form gab es nicht mehr. Auf der anderen Seite hatten 18 Jahre auf See auch Spuren hinterlassen, die Arbeit war hart, das Wetter nicht immer günstig, „es war Zeit ahoi zu sagen“, erklärt Korselt ohne einen Anflug von Bitterkeit.
Was sie ehedem sicher nicht geahnt hat ist, dass sie beruflich fortan so recht keinen Fuß mehr auf die Erde bekommen sollte. Und obwohl sie Ende der 1990er Jahre sogar noch eine Umschulung zur Bürokauffrau gemacht hat, habe es immer nur für befristete Arbeitsverträge oder „Strukturanpassungsmaßnahmen“ gereicht - etwa als Touristikassistentin bei den Landesliteraturtagen Sachsen-Anhalt. Sie war auch mal im „Haus der Geschichte“ und Anfang der 2000er Jahre mit im Flutopferstab.
Aber etwas Dauerhaftes, etwas worauf man sich verlassen kann, gab es nicht mehr. Auch ihre jetzige Maßnahme ist befristet, doch an das Ende im Juli 2017 mag Christina Korselt nicht denken: „Ich will mich auf die Zeit konzentrieren, die noch vor mir liegt“, sagt sie, spricht von „netten Kollegen“ in der Stadtkirche und betont: „Ich bin hier richtig aufgeblüht.“ (mz)
