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30 Jahre Wende  30 Jahre Wende : Wie der MZ-Vorläufer "Freiheit" über den Umbruch informierte

Von Grit Pommer 17.10.2019, 04:00
Am Büro der Partei Die Linke in der Sangerhäuser Göpenstraße sind gegenwärtig Zeitungsseiten der „Freiheit“ aus der Wendezeit ausgehängt.
Am Büro der Partei Die Linke in der Sangerhäuser Göpenstraße sind gegenwärtig Zeitungsseiten der „Freiheit“ aus der Wendezeit ausgehängt. F. Schedwill

Sangerhausen - Es hat lange gedauert, bis der Wendeherbst 1989 auch in den DDR-Zeitungen ankam. Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der Republik, hatten in Berlin große Lkw mit anmontierten Schiebeschilden Demonstranten von der Straße geräumt, die die „Internationale“ sangen.

Systemtreue Presse

Diese Bilder, gezeigt im Westfernsehen, verstören selbst jene, die bisher an ihren Staat geglaubt hatten. Die „Freiheit“ als von der SED herausgegebene größte Tageszeitung im damaligen Bezirk Halle titelt jedoch: „Bürger unserer Republik sind empört über Störenfriede“. Westmedien hätten die „antisozialistischen Ausschreitungen“ in Berlin angekurbelt, heißt es.

Im Sangerhäuser Lokalteil spielt all das keine Rolle. „Die Erfolge zum 40. können sich überall sehen lassen“ steht über dem üblichen Jubel-Aufmacher zum Republikgeburtstag.

Wir sind an Ihren Geschichten, Erinnerungen und Erlebnissen interessiert. Was ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben? Kennen oder kannten Sie Leute, die in den Westen geflüchtet sind? Was haben Sie empfunden? Haben Sie sich an Protestaktionen beteiligt? Welche Gedanken bewegten Sie? Hatten Sie Angst?

Und: Wie haben Sie den Tag des Mauerfalls direkt erlebt? Saßen Sie vorm Fernseher oder haben Sie erst am nächsten Tag davon erfahren? Wann sind Sie zum ersten Mal gen Westen gefahren? Welche Eindrücke hat das hinterlassen? Was haben Sie sich vom Begrüßungsgeld gekauft? Schreiben Sie uns, schicken Sie uns Fotos, berichten Sie von Ihren Erlebnissen. Schon jetzt vielen Dank dafür.

Bitte melden Sie sich bei uns in der MZ-Lokalredaktion in 06526 Sangerhausen, Grauengasse 1 c. Telefonisch erreichen Sie uns unter 03464/54 40 61 51 oder per E-Mail [email protected]

Schon am 9. Oktober allerdings kippt die Auseinandersetzung mit der Staatsmacht in die entscheidende Richtung. Am Abend demonstrieren in Leipzig 70.000 Menschen auf dem Ring.

Polizei und Kampfgruppen sind aufmarschiert, schlagen aber nicht zu. Über den Stadtfunk verliest Kurt Masur den „Aufruf der Sechs“, den drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung mit zwei Künstlern und einem Theologen verfasst haben: für freien Meinungsaustausch, auch mit der Regierung. Und für Besonnenheit, „damit der friedliche Dialog möglich wird.“

Neuer Dialog sollte es richten

Dialog - dieses Schlagwort wird eine gute Woche später die Zeitungsspalten bestimmen - vom „Neuen Deutschland“ in Berlin über die Bezirksblätter bis zu den Lokalseiten der Kreise.

Honecker ist entmachtet, am 19. Oktober verkündet die „Freiheit“ auf Seite 1 mit riesigem Foto Egon Krenz als neuen Generalsekretär des SED-Zentralkomitees. „Dialog vor Ort im GHB Allstedt“ titelt die Lokalausgabe Sangerhausen. Die Chefin der SED-Kreisleitung hört sich vor Ort an, was im Großhandelsbetrieb alles schief läuft.

Das „Gespräch vor Ort - offen und konstruktiv“ wird fortan an vielen Stellen geführt. Plötzlich scheint die Funktionäre zu interessieren, was in den Betrieben wirklich los ist und was die Leute eigentlich so denken.

In der Ausgabe vom 20. Oktober befinden sich die „Sangerhäuser Plattenwerker im anregenden, freimütigen Dialog“, am 26. Oktober herrscht im VEB Dienstleistungsbetrieb „Dialogatmosphäre“.

Sangerhausens Bürgermeister kündigt in der Presse für den 31. Oktober das erste Rathausgespräch an. Künftig soll regelmäßig mit interessierten Bürgern über wichtige Themen diskutiert werden.

Am 28. Oktober berichtet die „Freiheit“ über eine Informationsberatung der Kreistagsmitglieder im Pionierhaus, bei der sich vor allem die Abgeordneten der Blockparteien kritisch über ihre bisherige Arbeit als Volksvertreter äußern.

Der Berichterstatter stellt fest, dass sich die Abgeordneten „ihrer großen Verantwortung im Prozess der Erneuerung unserer sozialistischen Gesellschaft durchaus bewußt sind“. Ende Oktober wird angekündigt, dass künftig an jedem Mittwochabend in Sangerhausen ein Podium im Haus der Werktätigen stattfinden soll.

Erster Hinweis auf Neues Forum

Über die Sangerhäuser Gruppe des Neuen Forums, die sich Mitte Oktober gegründet hatte, findet sich vorerst keine Zeile. Die neue politische Kraft taucht erst am 1. November auf der Sangerhäuser Lokalseite auf: In einer Meldung wird mitgeteilt, dass der Vorsitzende des Rates des Kreises - in seiner Position vergleichbar mit einem heutigen Landrat - ein Gespräch mit Mitgliedern der Bürgerinitiative „Neues Forum“ geführt habe.

Es seien „unterschiedliche Standpunkte zu gegenwärtig anstehenden Fragen der Erneuerung und Kontinuität unserer gesellschaftlichen Entwicklung“ dargelegt worden. Einig sei man sich gewesen, dass alle Fragen „im politischen Dialog und gewaltfrei mit allen Bürgern und Interessengruppen“ gelöst werden müssten.

Von da an nimmt die Berichterstattung richtig Fahrt auf - so wie auch die Ereignisse. Am 2. November berichtet die Lokalzeitung vom ersten Rathausgespräch in Sangerhausen, das wegen des großen Andrangs - rund 700 Leute waren gekommen - nach draußen auf den Markt verlegt werden musste.

Von hochschlagenden Emotionen ist die Rede. Und davon, dass der angefangene Dialog darin münden müsse, „verloren gegangenes Vertrauen in die Politik von Partei und Staat“ zurückzuerlangen.

Nur einen Tag später: 900 Leute beim ersten Mittwochs-Podium, auch hier muss man auf die Fläche vor dem Pionierhaus ausweichen. Der Bericht in der „Freiheit“ greift auf, was die Menschen an diesem Abend interessierte.

Auf Leser eingegangen

War die Chefin der SED-Kreisleitung in Italien im Urlaub? Nein, in Potsdam. Warum läuft es im Handel so mies? Warum werden marode Straßen erst dann repariert, wenn hohe Tiere aus Berlin zur Müntzer-Ehrung nach Stolberg durchfahren?

Dass am Abend zuvor rund 4.000 Leute beim ersten großen Bürgerdialog des Neuen Forums in und an der Jacobikirche waren steht gleich daneben in einer kleinen Meldung, ist tags darauf - am 4. November - aber Thema des Lokalaufmachers.

Im Text wird auch die Kritik einer Frau zitiert, deren Brief an die Bezirksredaktion der „Freiheit“ in Halle nur auszugsweise abgedruckt worden war - und nur das Positive. In der Lokalredaktion in Sangerhausen schien man da schon einen Schritt weiter.

Ansonsten kämpfen die Kollegen von damals mit sachlichen Zwängen: Es gibt jeden Tag nur eine einzige Lokalseite - und die ist am Montag für den Lokalsport reserviert. So kann man immer erst am Dienstag über Dinge berichten, die Freitagabend und am Wochenende passiert sind. (mz)

Zeitungsfotos vom Bürgerforum am 2. November in der Jacobikirche.
Zeitungsfotos vom Bürgerforum am 2. November in der Jacobikirche.
F. Schedwill
Die erste Meldung zum Neuen Forum.
Die erste Meldung zum Neuen Forum.
F. Schedwill
Bericht über das erste Mittwoch-Podium mit SED-Kreisleitung und Rat des Kreises am 1. November am Pionierhaus.
Bericht über das erste Mittwoch-Podium mit SED-Kreisleitung und Rat des Kreises am 1. November am Pionierhaus.
F. Schedwill