30 Jahre Wende 30 Jahre Wende : Der Traum von einer demokratischen DDR

Sangerhausen - Im Herbst 1989 überschlugen sich die Ereignisse in der DDR. Nach den Leipziger Montagsdemonstrationen trat der SED-Generalsekretär Erich Honecker am 18. Oktober zurück.
Honeckers Nachfolger Egon Krenz kündigte Reformen an. Es folgte schließlich die Grenzöffnung am 9. November. Gleichzeitig wurde weiter demonstriert. Neue demokratische Kräfte traten überall öffentlich auf.
In Sangerhausen waren das das Neue Forum und auch der Demokratische Aufbruch. Auch die SDP gründete sich. In Berlin trafen sich am 7. Dezember 1989 Vertreter der DDR-Regierung, von Massenorganisationen der DDR-Blockparteien, der Opposition und Vertreter der Kirche am ersten zentralen „Runden Tisch“.
Dort ging es um die großen politischen Themen: die Umgestaltung der DDR, das Ende der SED-Herrschaft, freie Volkskammerwahlen und eine neue Verfassung. Aber auch in den Kreisen musste das Leben weitergehen und neu organisiert werden. Im Dezember gab es auch in Sangerhausen Bestrebungen, einen Runden Tisch einzuberufen.
Brennende Themen behandelt
Erst 1987 war Gottfried Appel nach Sangerhausen gekommen und war hier als der zweitjüngste Superintendent der Landeskirche eingesetzt worden.
Das sei damals die Zeit der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR gewesen, erinnert sich Appel noch heute sehr gut an diese Zeit.
Es war eine der ersten regionalen Versammlungen in Europa im Rahmen des Konziliaren Prozesses, eines gemeinsamen „Lernwegs“ christlicher Kirchen zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.
Sie fand in drei Vollversammlungen im Zeitraum zwischen Februar 1988 und April 1989 statt. Das waren auch gesamtgesellschaftlich brennend aktuelle Themen in der DDR, fand der junge Superintendent damals.
Appel weiß noch heute ganz genau, wie damals die Gründer der Initiativgruppe Neues Forum bei ihm vorsprachen. Sie wollten sich im Pfarrhaus in der Alten Promenade treffen, um das Neue Forum in Sangerhausen ins Leben zu rufen.
Die zunächst kleinen Treffen im Gemeindehaus wurden dann immer größer, so dass man schließlich in die Jacobikirche auswich. Einer der Initiatoren des Neuen Forums in Sangerhausen war der damalige Pfarrer Matthias Barthels.
Treffen beim Kulturbund
„Nach dem ersten Runden Tisch in Berlin war es meine Frau, die mich fragte: Müsstest du das nicht hier auch machen?“, erzählte Appel. Seine Frau gehörte damals auch dem Neuen Forum an.
Als Superintendent wollte er nicht Partei für eine Gruppierung oder Strömung ergreifen, wohl aber den gesellschaftlichen Diskurs mit auf den Weg bringen. „Mir lag daran, eine demokratische DDR aufzubauen.“
Er habe sich mit allen Kirchenvertretern abgesprochen und danach lange an der richtigen Formulierung für die Einladung gearbeitet. Die Einladung versendete er schließlich an die SED, an alle Parteien des demokratischen Blocks und alle neuen Gruppierungen.
Als Treffpunkt wählte er einen neutralen Ort und kam auf den Carl-von-Ossietzky-Club in der Straße der Opfer des Faschismus.
Der gehörte zum Kulturbund der DDR, der allgemein als eine eher unpolitische Rückzugsnische in der DDR galt, in der sich beispielsweise Heimatfreunde, Sammler, aber auch Schriftsteller beispielsweise trafen.
Unterm Dach des Kulturbundes arbeiteten auch die Kulturhäuser. Mit diesem Veranstaltungsort, so hoffte Appel, konnten alle leben. Der Superintendent lud schließlich für den 19. Dezember, 19 Uhr, zum ersten Runden Tisch in Sangerhausen ein.
Dass Weihnachten unmittelbar vor der Tür stand, habe damals niemanden davon abgehalten, an diesem Veränderungsprozess mitzuwirken. Die kurz bevorstehenden Feiertage waren einfach Nebensache.
Erstes Thema am Runden Tisch im Ossietzky-Club sei die Geschäftsordnung gewesen, sagte Appel. Und vieles von dem, was er heute in den Sitzungsprotokollen von damals lese, sei Pillepalle gewesen. Aus heutiger Sicht. Aber damals habe man Demokratie erst lernen und sich erarbeiten müssen.
Heute ganz selbstverständliche Sachen waren damals bahnbrechend neu. Zum Beispiel unterschiedliche Ansichten zu einem Thema zu äußern. Und so wurde festgelegt, wer Stimmrecht haben wird am Runden Tisch und wie das Rederecht gehandhabt wird.
Die SED-nahen Massenorganisationen wie die FDJ zum Beispiel durften demnach als Beobachter am Runden Tisch sitzen, hatten jedoch kein Stimmrecht, erklärte Appel.
Sehr schnell sei die Partnerschaft mit Hildesheim auf die Tagesordnung gesetzt worden. Da sei es vor allem darum gegangen, Demokratie zu erlernen. Auch Sachfragen wurden selbstverständlich am Runden Tisch in Sangerhausen erörtert.
Alles das, was den Menschen auf den Nägeln brannte, kam auch auf die Tagesordnung. Da im Rat des Kreises, vergleichbar mit der heutigen Kreisverwaltung, die meisten Informationen zusammenliefen, gab es zu Beginn jedes Runden Tisches einen Bericht des Rates des Kreises.
Die Versorgung der Bevölkerung war ein wichtiges Thema, das am Runden Tisch erörtert wurde und die zahnärztliche Versorgung. Appel weiß heute gar nicht mehr, weshalb gerade die Zahnärzte ein so großes Problem darstellten. Wahrscheinlich seien auch sehr viele Menschen bereits in den Westen ausgewandert, was zu Problemen in der DDR führte.
Prioritäten abgearbeitet
Es wurde eine Prioritätenliste erarbeitet. Appel erinnerte sich auch daran, dass der Fluglärm in Allstedt ein wichtiges Thema gewesen sei. Immer wieder habe die Frage gestanden: „Wie gehen wir das an?“
Denn die Teilnehmer des Runden Tischs begaben sich praktisch überall auf Neuland. So war es absolut unüblich, auf dem Flugplatz in Allstedt bei einem Sowjetoffizier vorzusprechen, und auch noch Forderungen oder Bitten vorzutragen.
„Man wusste ja auch gar nicht, wie darauf reagiert würde“, erinnerte sich Appel. Neuland waren auch erste Arbeitsniederlegungen, mit denen man sich schließlich am Runden Tisch befassen musste.
Als Erste forderten die Mitarbeiter des Verkehrswesens im Kreis Sangerhausen höhere Löhne, fand Appel in den Dokumenten vom Runden Tisch, die er in Kopie aufbewahrt hat.
Auch sei einmal ein Stasioffizier am Runden Tisch befragt worden. In diesem Zusammenhang bedauerte Appel, dass es den demokratischen Kräften in Sangerhausen damals nicht gelungen sei, die Vernichtung von Akten und Dokumenten in den Behörden zu verhindern.
Man sei da auch ganz offensichtlich belogen worden. Da habe es gehießen, dass Akten nur ein Jahr lang aufbewahrt und dann vernichtet werden, als man danach gefragt habe.
Das betraf nicht nur die Stasibehörde, sondern auch den Rat der Stadt oder den Rat des Kreises. Überall wurden Akten vernichtet. „Schade, da konnten wir nichts tun“, bedauerte Appel.
(mz)
