1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Quedlinburg
  6. >
  7. Wo Erinnerung auch Kraft spendet

Wo Erinnerung auch Kraft spendet

Von Stephan Neef 10.04.2006, 15:06

Quedlinburg/MZ. - Die beiden Städte am Fuße des Isergebirges trennen nur wenige Kilometer. Selbst mit dem Fahrrad ist es nur ein Katzensprung von Reichenberg nach Gablonz, wie man so sagt. Heute leben Margit Riekehr und Margit Halletz - beide inzwischen 73 Jahre alt - in einem Haus, sozusagen Tür an Tür. Das ist natürlich Zufall. Wenn auch ein glücklicher Zufall, von dem noch andere Ex-Reichenberger und Ur-Gablonzer profitieren.

Harz als neue Heimat

Denn in Quedlinburg und umliegenden Gemeinden leben zahlreiche Sudetendeutsche, die nach dem Ende des zweiten Weltkrieges ihre böhmische Heimat verlassen mussten. Und im Harz eine neue Heimat fanden. Hier haben sie geheiratet, ihre Kinder groß gezogen, hier sind sie alt geworden. Doch den Landstrich, in dem sie geboren und aufgewachsen sind, haben sie bis heute nicht vergessen. Jahrzehntelang durften sie ihre Heimatliebe nicht öffentlich zeigen, nur im Familien- oder Freundeskreis in Erinnerungen schwelgen, der Geschichte ihrer Landsleute und der eigenen Schicksale gedenken. Erst nach der Wende konnten auch im Ostharz sudetendeutsche Heimatvereine entstehen. Dass es sie auch in Quedlinburg nach fast eineinhalb Jahrzehnten noch gibt, ist vor allem das Verdienst von Margit Riekehr und Margit Halletz.

Im November 1992 gründete der Bad Suderöder Karl Seiboth die Gablonzer Gilde. Als Seiboth 1994 starb und sein Nachfolger Gerald Bien nach kurzer Amtszeit aus beruflichen Gründen die Gildenführung abgeben musste, übernahm Margit Halletz das Zepter. "Weil es kein anderer machen wollte", erinnert sich Margit Riekehr, die im März 1993 die Reichenberger Gilde ins Leben rief. Fast acht Jahre arbeiteten die beiden Vereine unter dem Dach der Sudetendeutschen Landsmannschaft, waren aber von Anfang an selbständig und nur ihren so genannten Heimatkreisen rechenschaftspflichtig, die in Bayern ihre Zentralen haben. Nachdem die Quedlinburger Kreisgruppe der Landsmannschaft Ende 2000 aufgelöst wurde, übernahmen beide Gilden die alleinige Betreuung der Sudetendeutschen - und arbeiten seitdem verstärkt zusammen.

"Wir legen Wert darauf, nicht als Revanchisten angesehen zu werden", stellt Margit Halletz klar. "Wir lieben unsere Heimat und wollen das weiterpflegen, auch manche Tradition, das Brauchtum und die Mundart", fügt sie hinzu. Das geschehe vor allem während der regelmäßigen Heimatnachmittage, deren Krönung die großen Feste und Feiern sind. Etwa 30 Reichenberger seien noch dabei, berichtet Margit Riekehr. Und etwa 65 Gablonzer.

Feger und Witwen

"In den vergangenen Jahren ist unsere Gilde zu einer großen Familie zusammengewachsen, die sich gern trifft, um zu brejchen, also zu erzählen, und zu hören, was es Neues gibt, auch aus der alten Heimat", ergänzt die Gilden-Cheffrau. Höhepunkt solcher Nachmittage sind die Mundart-Vorträge. Als "Schaltzentrale" des gemeinsamen Gilde-Lebens fungieren die beiden Nachbar-Wohnungen in der Quedlinburger Käthe-Kollwitz-Straße. Hier werden Veranstaltungen konzipiert, Einladungen und manches Mundartgedicht geschrieben, diverse Sketche und Büttenreden. Oft ist Mundart-Expertin Gerti Möller (79) dabei, die mit ihren Liedern auch bei anderen Vereinen gastiert und mit Margit Halletz - vorzugsweise im Gildefasching - als urkomisches Pärchen für Lachsalven sorgt. "Als Straßenfeger nehmen wir zum Beispiel das auf die Schippe, was nicht ganz in Ordnung ist", präzisiert Margit Halletz, die mit Gerti Möller auch im Fritz-Prieß-Chor singt. "Ich mache eben gern Reime", gesteht sie. Ihre Paraderolle, offenbar dem eigenen Leben entlehnt, sei die "Lustige Witwe", berichten Landsleute. Sie wolle eben zeigen, "dass es nichts bringt, sich zu verkriechen", schmunzelt Margit Halletz. Und meint nicht nur das gemeinsame Feiern, Singen oder Tanzen.

Seit 1998 organisiert die rüstige Seniorin, die wie Gerti Möller und andere Gablonzer in den Harzer Schmuckwerkstätten die Tradition der Gablonzer Bijouterie weiterführte, Reisen in die alte Heimat. In manchem Sommer steuere der Kleinbus eines Quedlinburger Unternehmens dreimal das Böhmerland an. Die Gastgeber seien Tschechen, zu denen inzwischen "eine sehr enge Freundschaft" bestehe. "Auch das ist ein Zeichen dafür, dass wir keine Revanchisten sind", lacht Margit Halletz. Mit einem großen Bus wollen die Quedlinburger Sudetendeutschen im Juni 2006 ins schwäbische Neu Gablonz reisen. In diesem Ortsteil von Kaufbeuren, der von Ex-Gablonzern aufgebaut wurde, findet das zentrale Heimattreffen statt.

Auch wenn die sudetendeutsche Heimatstube im Kloster Hedersleben aus finanziellen Gründen aufgelöst werden musste, an Geschichte und Schicksale der zwischen Havel, Bode und Werra angesiedelten Reichenberger und Gablonzer erinnert inzwischen ein Buch, an dem Margit Riekehr und Margit Halletz mitschrieben. Es dokumentiert Neuanfang und Blüte der Gablonzer Schmuckindustrie in Thüringen, Brandenburg und im Harz. Das Harz-Kapitel stammt aus der Feder der beiden Quedlinburger Gilde-Frauen.