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Mahnmal wieder zugänglich Nach Umgestaltung ist der Jüdische Friedhof in Quedlinburg am Jahrestag der Reichspogromnacht wiedereröffnet worden

Was die Ballenstedter Bildhauerin Esther Brockhaus installiert hat.

Von Benjamin Richter 11.11.2021, 12:00
Der Jüdische Friedhof in Quedlinburg ist nach umfangreicher Umgestaltung wieder eröffnet worden.
Der Jüdische Friedhof in Quedlinburg ist nach umfangreicher Umgestaltung wieder eröffnet worden. Foto: Richter

Quedlinburg/MZ - „Tod, Hass, Mord und Gewalt führen uns heute hier zusammen“, begrüßt Pfarrer Tobias Gruber die Umstehenden. Rund 60 sind es, die am späten Dienstagnachmittag zum Gedenken an die Gräuel der Novemberpogrome von 1938 auf dem Jüdischen Friedhof an der Zwergkuhle zusammengekommen sind. Die Zusammenkunft markiert zugleich die Wiedereröffnung des Friedhofs als Mahnmal nach umfangreicher Umgestaltung durch die Initiative Jüdischer Friedhof Quedlinburg im vergangenen Jahr.

Zwischenzeitlich sei pandemiebedingt kein offizieller Festakt zur Eröffnung möglich gewesen, erklärt Maria Hufenreuter von der Initiative, warum zwischen der Fertigstellung der Arbeiten und der Einweihung so viel Zeit ins Land gehen musste.

„Wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist“

Längst haben die Namen der jüdischen Quedlinburger, die hier hätten begraben sein können, wenn sie nicht deportiert und vergast worden oder selbst aus dem Leben geschieden wären, ihren Platz auf Tafeln an der Friedhofsmauer gefunden. Auf der einst verkrauteten Rasenfläche, die inzwischen gemäht wurde, hat die Ballenstedter Bildhauerin Esther Brockhaus ihr Kunstprojekt „Fußabdrücke“ installiert. Eine große Infotafel im Eingangsbereich und der Gedenkstein mit dem Davidsstern runden das Erscheinungsbild des Gedenkorts auf dem Hügel, fernab des städtischen Trubels, ab.

An jenem Gedenkstein legte Oberbürgermeister Frank Ruch einen Kranz im Namen der Stadt nieder. Das Gedenken an die Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus, betonte er, sei ein wichtiger Beitrag für die Zukunft der Demokratie. „Das Vergessenwollen verlängert das Exil“, zitierte Ruch eine jüdische Weisheit. Auch in Quedlinburg seien jüdische Mitbürger an Ketten gefesselt über den Marktplatz getrieben worden. Von einst 137 jüdischen Quedlinburgern, erläuterte Stefan Helmholz von der Initiative Jüdischer Friedhof, seien 34 nachweislich verstorben und 19 emigriert - bei der verbleibenden Mehrheit sei das Schicksal unbekannt. „Wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist.“

Friedhof wurde zweimal geschändet

Mindestens zwei weitere Male, schilderte Helmholz, sei der Jüdische Friedhof nach 1938 noch geschändet worden - zuletzt zu DDR-Zeiten im Jahr 1978, als so gut wie alle alten Grabsteine verschwanden. Bei der Suche nach ihnen „haben wir alles über das Scheitern gelernt, was man über das Scheitern wissen muss“, fügte Stefan Helmholz hinzu - zum Verbleib der Grabmale sei in keiner Landes- oder städtischen Behörde und keinem Archiv etwas bekannt. So ist der eine Stein, der sich vor wenigen Jahren noch im Gestrüpp auf dem Friedhofsgelände befand und der heute ebenfalls einen neuen Platz an der Mauer gefunden hat, der einzige, der noch von der Vergangenheit dieser Begräbnisstätte zeugt.

Laut der hebräischen Bibel des Judentums, legte Pfarrer Gruber in seiner Andacht dar, gelte das Herz als Organ des Verstehens, mit dem die Menschen die Welt begreifen. Er selbst könne die Geschehnisse von 1938 bis 1945, als Randgruppen für Dinge verantwortlich gemacht wurden, mit denen sie nichts zu tun haben, und Menschen andere Menschen töteten, nicht verstehen - und wisse nun warum: „Mein Herz kann diese Grausamkeiten nicht fassen.“ Und es protestiere, wenn er heute Anhänger der Partei Dritter Weg durch Zwickau marschieren oder Kinder auf dem Quedlinburger Marktplatz unter schwarz-weiß-roten Flaggen spielen sehe.

Der Jüdische Friedhof, kündigte Maria Hufenreuter an, ist ab sofort nicht mehr nur am 9. November geöffnet. Vielmehr könne der Schlüssel jederzeit gegen ein Pfand in der Tourist-Information der Quedlinburg-Tourismus-Marketing GmbH am Markt ausgeliehen werden. Ausnahmen sind der Sabbat, also die Zeit von Freitagabend bis Samstagabend, sowie die hohen jüdischen Feiertage.