1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Quedlinburg
  6. >
  7. Harz: Harz: Geburtstagstorte? Nebensache!

Harz Harz: Geburtstagstorte? Nebensache!

Von uwe kraus 15.01.2012, 11:25

neudorf/MZ. - Fastfood-Kette, Kino, Bowlen, Spielen unterm Hallendach oder doch mal etwas ganz Anderes? Vivian Gall aus Annarode im Nachbarlandkreis feiert ihren elften Geburtstag. Mutti Kathrin schleppt einen Tortencontainer, dazu werden ein Kuchenblech und Windbeutel an einen Ort getragen, an dem ein außergewöhnlicher Mädelnachmittag stattfinden soll. Vivian kommt mit ihren Eltern und mit Jenny, Liska, Gina, Johanna, Cora und Anna in die alte Pfarre von Neudorf.

Seit acht Jahren leben hier Kirsten und Jörg Büchel, ihre vier Kinder, diverse Hühner, zwei Ziegen und drei Schafe. Wenn die nicht gerade im Wald weiden, was hier noch erlaubt ist. Jörg Büchel wurde schon "Ziegen-Peter" genannt, seine Kinder Öko-Tussis. Doch eigentlich haben die Eheleute einst ganz normale Berufe erlernt; Medizinisch-Technische Assistentin und Pharmazeutisch-Technischer Assistent.

Die Leute sind halt skeptisch hier. Nein, Vegetarier seien sie nicht. Aber ihre Wurst aus Schaf und Ziege machen sie schon selbst. Wer über den Hofzaun schaut, die Büchels besucht oder gar an einem ihrer Seminare teilnimmt, fühlt sich in John Seymors Buch "Vergessene Künste" hineinversetzt. Hinter dem Haus glüht das Schmiedefeuer, das mit einer besonderen stromlosen Konstruktion angeblasen wird. Anhänger können hier die Gäste schmieden, eigene Nägel und Fibeln, mit denen einst Kleidung verschlossen wurde. Gleich daneben steht ein Korb. "Der ist aus Schielo und weit über 100 Jahre alt", erklärt Jörg Büchel. Er hat sich einen Spleißbock besorgt, auf dem nun die Späne entstehen, aus der wie einst im Nachbarort Körbe entstehen sollen. Um 1850 haben von diesen Spankörben in Schielo 100 Familien gelebt. Aber auch aus Weidenruten und Rohrkolbenblättern, die zu Schnur gedreht werden, wird in der alten Pfarre geflochten.

Kirsten Büchel, die Geschäftsführerin von "Historisches Kunsthandwerk - Hofladen mit Galerie" kommt mit dem Aufzählen kaum nach, welche Techniken hier am Leben erhalten bleiben und gepflegt werden. Stricken, Arbeiten mit Speckstein, Grasflechten sowie Filzen, dafür steht sie selbst. "Der Tag könnte noch länger sein, um das alles hinzubekommen", sagt sie, während sich drei Geburtstagsgäste dem Kaltfilzen widmen. Vivian dagegen rückt mit einer Feile dem Speckstein zu Leibe. Langsam scheint sich ein Herz aus dem Material zu schälen. Jörg Büchel möchte nicht nur mit dem Geburtstagsangebot den Kindern "das Gefühl fürs Material geben", was heute vielen fehle. Er gehört noch zu der Generation, welche Werkunterricht hatte und in Arbeitsgemeinschaften bastelte. "Wenn wir hier Kinder zum Kennenlernen historischer Handwerkskunst haben, blühen manche bei der Arbeit so auf, dass selbst ihre Eltern überrascht sind."

Seit zwei Jahren betreiben die Büchels die Pflege des alten Kunsthandwerkes hauptberuflich. Eins kam zum anderen, denn beide sind Autodidakten. Jörg Büchel hat sich hobbymäßig schon lange mit Archäologie und all dem, was da dran hängt befasst. In der Galerie stehen im Holzfeuer gebrannte Tassen und hängt Kelten-Schmuck. Mit dem Besenbinden befasst er sich, versucht mit seiner Feldschmiede immer neue Dinge. Kirsten Büchel verweist darauf, dass eigentlich nur mit Material gearbeitet werde, das quasi von vor der Haustür ist. In der Saftruhe, welche von Oktober bis März währt, werden die Weiden geschnitten, die grün verarbeitet oder erst einmal gut abgelagert werden, um dann Kiepen, Körbe, Blumenampeln oder andere Behältnisse zu gestalten.

"Wir leben den Spaß, den wir selbst haben und den wir unseren Mitmenschen bereiten", umreißt die Geschäftsführerin ihre Lebensmaxime. Vor ihren Ständen auf Mittelaltermärkten oder Volksfesten, beim Quedlinburger Advent in den Höfen und dem Vorfreudeweihnachtsmarkt in Weddersleben bilden sich oftmals Schlangen. "In der Welt, in der es eigentlich alles zu geben scheint, suchen Menschen das Besondere."

So gibt es nicht nur Kindergeburtstage, zu denen Gesellschaften aus Halberstadt oder vom Christlichen Kinderhaus Quedlinburg nach Neudorf kommen. "Jetzt hat sich eine Geburtstagstruppe Erwachsener angemeldet, die in zwei Stunden ein Abendbrotskörbchen flechten wird", blickt Kirsten Büchel in den Kalender. Ihr Mann versucht, immer weiter in die Handwerksgeheimnisse einzudringen. Aus einem Pflasterhammer schmiedete er einen Dexel, eine Queraxt. Beim Herstellen einer Schlachtmolle aus Harzer Holz hat er das Traditionswerkzeug, das heute im Fachhandel zu horrenden Preisen verkauft wird, ausprobiert. Es hat geklappt wie bei den Urahnen. Dass die Socken seiner Frau besonders weich sind, dazu hat er auch mit einem Eigenbau beigetragen. Die Schafwolle wird mit einem eigenen Kammzug bearbeitet.

Die Annaröder Kinder scheinen glücklich zu sein über den Nachmittag der besonderen Art. Mit Filz-Pilz, Teelicht-Keramik und Speckstein-Anhänger erinnern sie sich daran. Da wurde der Geburtstagskuchen fast zur Nebensache.