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Forstwirtschaft im Harz „Es ist nicht so wie auf der Autobahn“

Mit dem Forstbetrieb Oberharz hat das Fraunhofer-Institut ein System entwickelt, das Förstern beim Erschließen von Waldflächen hilft und den Boden nachhaltig schont. Warum es bei Rückegassen zentimetergenau zugehen muss.

19.04.2021, 10:00

Trautenstein - Alles hier war mal grau. Und Grau heißt Grün: Auf der alten Karte, die der Oberharzer Forstbetriebsleiter Eberhard Reckleben und Förster Tom Hartung ausgerollt haben, steht die graue Farbe noch für die Fichte. Fichten gibt es auf der Teilfläche zwischen Rappbodetalsperre und Rübeland, die zu Hartungs Revier gehört, aber keine mehr. Erst kamen Sturm und Dürre; dann griff der Käfer an. Er versetzte dem Baumbestand den Todesstoß. Die Fichten mussten gefällt, die Stämme fortgeschafft werden. Was blieb, war eine Kahlfläche, wie es viele im Harz gibt. Und doch unterscheidet sie sich von anderen.

Ordnung im Chaos mit einem Algorithmus vom Fraunhofer-Institut

Baumreste und Bio-Masse sind inzwischen zu Wällen aufgeschüttet. Mehr als zwei Dutzend reihen sich im Abstand von je 22 Metern aneinander. Schnurgerade durchziehen sie das Areal. Die sonderbare Ordnung im vermeintlichen Chaos, sie basiert auf einer exakten Berechnung, einem Algorithmus, den das Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung in Magdeburg auf Grundlage der Daten aus dem Forstbetrieb Oberharz entwickelt und darauf aufbauend ein Programm geschrieben hat. Die Software, die im Oberharz bereits im Einsatz ist, hilft den Förstern nicht nur heute ganz wesentlich bei der Planung; auch ihre Nachfolger werden noch profitieren - und nicht zuletzt der Waldboden.

Seit ein paar Jahren machen das Institut und der Forstbetrieb gemeinsame Sache. Schon vor der Katastrophe fanden Wissenschaftler und Praktiker zueinander. Sie wollten zusammen Lösungen finden. Es ging ihnen um das Raster der Rückegassen, das die Wälder durchzieht, dessen systematische Erschließung und Optimierung und die Digitalisierung der Verläufe.

„Gewicht auf dem Waldboden ist immer schlecht. Bodendruck heißt Bodenschäden“

Eine Rückegasse ist, auch wenn es ihr Name suggeriert, kein Weg im klassischen Sinn, der tagtäglich genutzt wird, sondern vielmehr nur eine von Bäumen freie Schneise. So eine Gasse ermöglicht schwerem Gerät ein Herankommen an die Einsatzstelle, beispielsweise bei der Holzernte. Sie wird im Regelfall also nur alle Jubeljahre einmal befahren. Zwischen den Einsätzen wächst sie mehr oder weniger zu. Und je älter sie ist, desto schwieriger wird es, ihren exakten Kurs nachzuzeichnen. Und wenn dann noch die Bäume als Orientierungspunkte nicht mehr da sind - die Kahlflächen erstrecken sich inzwischen über Tausende Hektar -, wird es richtig kompliziert.

„Mitunter stolpert man mal drüber, erkennt den Ansatz einer alten Rückegasse. Aber man kann die Linie nicht durchziehen“, erklärt Hartung. Da nutzten ihm auch Luftbilder und das alte Kartenmaterial von seinem Vorgänger nichts – „leider. Er hat sich damit viel Arbeit gemacht.“ Doch ein Strich auf dem Papier ist letztlich zu ungenau. Selbst manch GPS-Empfänger ist es noch. Sein Chef, Reckleben, beschreibt es anschaulich: „Es ist nicht so wie auf der Autobahn, wo man, wenn man fünf Meter neben der Mittelspur fährt, immer noch auf der Straße ist.“

Auf einer Waldfläche, führt er aus, bedeute das, dass man sich neben der alten Rückegasse befinde. Das ist problematisch. Durch den Druck, den die tonnenschwere Forsttechnik ausübt, verdichtet sich der Boden. „Gewicht auf dem Waldboden ist immer schlecht. Bodendruck heißt Bodenschäden“, sagt er. Deshalb, so der Betriebsleiter, dürfe nur so wenig wie möglich Fläche befahren werden, sollten immer dieselben Wege benutzt werden. Die bodenschonende Bewirtschaftung, sie ist im Waldgesetz verankert.

Reckleben erhofft sich, durch die optimale Erschließung der Gassen und ihre punktgenaue Erfassung perspektivisch auch zwei bis fünf Prozent Waldfläche zurückgewinnen zu können.

„Die große Masse ist noch nicht erfasst“

Vor vier Jahren begann der Betrieb, die Gassenführung digital aufzuzeichnen – zentimetergenau –, um der nachfolgenden Generation in 20, 30, 40 Jahren ein Wiederauffinden zu ermöglichen. Er ist aber lange nicht so weit, wie er gern wäre. „Die große Masse ist noch nicht erfasst“, sagt Reckleben. Die immensen Waldschäden forderten die Kräfte anderweitig. Was die Bedeutung des eigentlichen Anliegens nicht geschmälert hat. Im Gegenteil: „Durch die Katastrophe ist das Projekt noch relevanter geworden“, da jetzt die Voraussetzungen für Morgen geschaffen würden, sagt Hartung, der die Wissenschaftler maßgeblich unterstützt hat.

Bei dem vom Fraunhofer-Institut entwickelten Verfahren werden alle Daten in die Waagschale geworfen, mit denen das Programm im Vorfeld gefüttert wurde, darunter Informationen zur Fläche, zur geografischen Lage, Hangneigung. Unter Berücksichtigung all dieser Parameter werden dann verschiedene Gassenverläufe erzeugt, ihre jeweils ökologischen und ökonomische Effekte ermittelt und gegenübergestellt. Manuell sei das in der Vielschichtigkeit so nicht möglich, sagt Hartung.

An praxistauglichen Lösungen arbeiten

Projektleiterin Dr.-Ing. Ina Ehrhardt vom Fraunhofer-Institut spricht von einer hochkomplexen forstlichen Planungsaufgabe, die man damit digitalisiert und in die Praxis überführt habe; sie bezeichnet das Ergebnis als ausgesprochen positiv und erfolgreich. Das führt sie auch auf die Zusammenarbeit mit dem Mitarbeitern vom Forstbetrieb Oberharz zurück, deren „persönliches Engagement und die große fachliche Kompetenz“: „Sie sind stark daran interessiert, mit uns als wissenschaftlichem Partner innovative und praxistaugliche Lösungen zu erarbeiten, die dem Betrieb möglichst sofort weiterhelfen“, und die Ergebnisse würden konsequent in die betrieblichen Abläufe integriert.

Im nächsten Schritt, so Ehrhardt, wolle man sich der bestehenden Gassennetze annehmen und deren Bewertung weiterentwickeln. Der Bedarf, sagt sie, sei bundesweit gegeben. „Vor dem Hintergrund der Kalamitätssituation besteht das Potenzial, Optimierungen vorzunehmen und Strukturen anzupassen.“

Zurück auf der Fläche bei Rübeland: Die langen Wälle markieren die künftigen Rückegassen. Und in den Bereichen dazwischen keimt Hoffnung. Tausende Bäume wurden hier in den vergangenen Wochen schon gepflanzt. Quartiersweise, wie Hartung sagt, da Linden, dort Lärchen, Douglasien und Kiefern … „Für die nächste Generation muss es optimal laufen. Es ist ein Riesenpaket an Arbeit und Verantwortung, das wir tragen, auch für die Zukunft“, so der Forstrevierleiter. (mz/tho)