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Erinnerungen an das Kriegsende im Harz Erinnerungen an das Kriegsende im Harz: Eine gefährliche Reise nach Quedlinburg

13.04.2015, 09:46
Hans-Herbert Biermann erzählt die Geschichte der letzten Kriegstage, die er als junger Soldat im Harz erlebt hat. Einige Fotos aus der Kriegszeit hat er noch.
Hans-Herbert Biermann erzählt die Geschichte der letzten Kriegstage, die er als junger Soldat im Harz erlebt hat. Einige Fotos aus der Kriegszeit hat er noch. Chris Wohlfeld Lizenz

Quedlinburg - Erinnerungen eines heute 87-Jährigen, der den Krieg als Soldat selbst miterlebte: Anfang April 1945: Der 2. Weltkrieg näherte sich in Europa seinem Ende.

Die Sowjetarmee stand an der Oder. Die Westalliierten hatten den Rhein überschritten und drangen weiter nach Osten vor. Aber für mich begann der Krieg erst richtig. Zwar hatte ich schon 14 Monate als Luftwaffenhelfer und sechs Wochen beim Reichsarbeitsdienst hinter mir, nun aber lag mein Einberufungsbefehl zur Wehrmacht auf dem Tisch. Er lautete auf den 2. April 1945 zur Schweren Flak-Ersatzabteilung 33 nach Weimar.

Unteroffizier nimmt Biermann in Empfang

Gegen Mittag am 3. April kam ich dort an. Vom Bahnhof waren es nur wenige Minuten bis zur Eingangswache eines großen Kasernenkomplexes. Ein Unteroffizier nahm mich in Empfang. Aufs Revier zum Arzt, im Magazin Uniform, Wäsche und Schuhe übernehmen, alles neu, und Quartier beziehen in einem großen Gebäude mit unendlich langem Flur in Zimmer zwölf. Drei Doppelbetten standen drin, dazu Spinde, Tisch und Stühle. Aber niemand war da. Was tun? Warten. Endlich öffnete sich die Tür. Ein Obergefreiter trat ein. „Was bist denn du für einer?“ fragte er ziemlich unwirsch statt einer Begrüßung.

„Oberschüler? Kriegsfreiwilliger? Willste noch den Endsieg erringen? Oder den Heldentod sterben?“ Ehe ich antworten konnte, meinte er schon “Lass mal, hier hast du deine Ruhe. Passiert nichts mehr.“ Und so war es auch. Es herrschte so etwas wie Endzeitstimmung. Die nächsten Tage vergingen in Untätigkeit. Bis zum 11. April.

Amerikanische Panzer in Buchenwald

An diesem Tag drangen amerikanische Panzer bis nach Buchenwald vor und befreiten die Insassen des Konzentrationslagers. Das wussten wir damals nicht. Auch kannten wir das schreckliche Ausmaß der Verbrechen nicht, die dort begangen worden waren. In der Kaserne wurde es an diesem Tag hektisch: Pfiffe und laute Kommandos erfüllten den Flur. „Alles sofort feldmarschmäßig fertigmachen, Verpflegung fassen, Antreten in 15 Minuten.“ Mit LKW waren wir auf der Flucht. Es ging Richtung Osten.

In Bürgel stoppte die Kolonne. Es hieß: Absitzen, antreten, zur Marschkolonne formieren. Zu Fuß ging es weiter. Ziel war Eisenberg.

Mit dem Zug nach Zeitz

Am Abend kamen wir als ziemlich desolater Haufen auf dem Bahnhof an. „Morgen früh geht es mit dem Zug nach Zeitz. Dort werden neue Kampfeinheiten zusammengestellt“, lautete der Befehl. Die Deutsche Reichsbahn funktionierte auch jetzt noch. Kurz nach 4 Uhr am 12. April bestiegen etwa 50 bis 60 Soldaten den fahrplanmäßigen Personenzug von Eisenberg über Crossen nach Zeitz.

Was tun, ging es mir bei der Ankuft im Zeitzer Bahnhof durch den Kopf. Wer weiß, was die vorhatten. Mir war klar, ich musste hier schnellstens weg. Vielleicht gab es einen Seitenausgang? Ich fand ihn und verschwand unbemerkt. Am Abend erreichte ich Luckenau. Dort fand ich hilfsbereite Leute, die mir ein Nachtquartier, am nächsten Morgen ein gutes Frühstück boten und ein halbwegs passendes Jackett schenkten, das ich nun statt der Uniformjacke trug. „Na dann viel Glück“, meinten meine Gastgeber, als ich erwähnte, dass ich zu Fuß nach Quedlinburg wollte.

Angst und Schrecken

Ich machte mich auf den Weg, die Dorfstraße entlang. Plötzlich hörte ich das Rasseln von Ketten. Panzer – durchfuhr es mich. Feindliche oder deutsche? Da tauchten sie schon auf. Amerikanische Sherman. Mein Herz schlug bis zum Hals. Sollte hier schon alles zu Ende sein? „Look there, a soldier.“ Der Kommandant rief es einem anderen zu. Nur nicht reagieren, dachte ich. Wegen dir werden sie nicht anhalten. Aber vielleicht knallen sie dich einfach ab? Sollte ich die Arme hochnehmen, mich ergeben? Tausend Gedanken durchzuckten mich. Nichts geschah. Die Panzer fuhren weiter, und ich sank erst einmal vor Angst und Schrecken in einer Toreinfahrt zusammen.

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Dann marschierte ich weiter, aus dem Dorf hinaus, an Teuchern vorbei, wobei ich tunlichst Straßen vermied und, wenn sich kein Feldweg fand, auch quer über den Acker lief. Mein nächstes Ziel war Leißling. Hier sollte es an der Saale noch einen Fährmann geben. Über die Brücken in Naumburg oder Weißenfels traute ich mich nicht, die waren sicher bewacht. Entweder von den Amis oder der Wehrmacht. Außerdem wäre das ein ziemlicher Umweg gewesen. Die Fähre war noch in Betrieb. Ich sei sein letzter Fahrgast, die Amerikaner müssten ja bald da sein, erfuhr ich von dem Mann, der mich mit seinem Kahn an einem Seil über den Fluss stakte. Bis in die Gegend von Mücheln kam ich noch. Dann suchte ich mir einen Schlafplatz in einer Feldscheune.

Wachen im Bach als einziger Luxus

Das Wetter hielt. Kein Regen, viel Sonne, Wärme. Ganz früh machte ich mich am nächsten Tag auf die Strümpfe. Ich hätte sie gern einmal gewechselt. Aber das war ein frommer Wunsch. Waschen in einem Bach war der einzige Luxus. Ich kam gut voran und nutzte statt der Umwege durch Feld und Wald die Landstraße von Querfurt nach Eisleben.

Osterhausen war der nächste Ort. Hier fand ich bei freundlichen Leuten Aufnahme für die Nacht und bekam sogar eine warme Mahlzeit. Ich schlief lange. Meine „Wirtin“ weckte mich. „Du musst hier weg. Vielleicht kriegen wir Einquartierung von den Amerikanern. Beim Nachbarn sind sie schon.“ Sie steckte mir noch etwas zu Essen zu, meine Feldflasche hatte sie auch gefüllt, und ich verschwand durch den Garten hinter dem Haus ins Freie. Auf in Richtung Harz. Die Hoffnung, bald zu Hause zu sein, trieb mich immer wieder vorwärts. Bis jetzt hatte ich nur Begegnungen mit US-Truppen. Auf deutsche Einheiten war ich nicht gestoßen. Und von Kämpfen hatte ich überhaupt nichts mitgekriegt. Gab es keinen Widerstand mehr? An diesem Tag ging alles reibungslos.

Suche nach einer Schlafmöglichkeit

In Hermerode schließlich suchte ich nach einer Schlafmöglichkeit. Vielleicht würde ich wieder barmherzige Gastgeber finden. In einer Gartenlaube verbrachte ich die, wie ich hoffte, letzte Nacht auf meinem Marsch zwischen den Fronten. Am Morgen konnte ich mich im Haus waschen und bekam ein ordentliches Frühstück, sogar ein Apfel war dabei. Man schenkte mir auch ein paar Strümpfe, denn meine waren nur noch Lappen. Ich war wieder einigermaßen gerüstet für die letzte Etappe.

Aber was mir die Leute erzählten, erfüllte mich mit Sorge. Im Harz sollte es hier und da noch deutsche Truppen geben. Also doppelte Vorsicht! Von Hermerode nach Königerode war es nicht weit. Nun nach Harzgerode. Ich sah die Stadt schon vor mir, als plötzlich ein Jeep auftauchte. Zur Flucht war es zu spät. Das Auto hielt, die beiden Insassen, US-Soldaten, packten mich wortlos, setzten mich auf die Kühlerhaube und ab ging es zurück nach Königerode.

Geschiebe und Gezerre beim Abtransport

Etwa in der Mitte des Dorfes bilden an der Straße zwei Gehöfte einen rechten Winkel. Auf dem einen Hof hatten die Amerikaner versprengte deutsche Soldaten eingesperrt. Ich gehörte nun auch dazu. Im Gegensatz zu den anderen, etwa 30 bis 40 „Landsern“, hatte ich nichts bei mir, was mir in der drohenden Gefangenschaft das Überleben ermöglichen konnte. Ich war verzweifelt. Bis zum nächsten Tag saßen wir in der Scheune. Am späten Vormittag war Motorengeräusch zu hören. Wir sollten abtransportiert werden. Zu zweit antreten, hieß es. Ich hatte niemanden, also wartete ich bis zuletzt. Zwei Transporter mit offener Ladefläche standen auf der Straße vor dem Gehöft. Um die Autos herum zahlreiche Dorfbewohner.

Um alle gefangenen deutschen Soldaten mitzukriegen, wurden ihnen Tornister und anderes platzraubendes Gepäck weggenommen. Niemand gab freiwillig etwas her. Es entstand ein ziemliches Geschiebe und Gezerre. Das Durcheinander nutzte ich, um mich Schritt für Schritt den Einwohnern zu nähern und schließlich in ihrer Mitte unterzutauchen. Das fiel in dem Trubel gar nicht auf, auch deshalb nicht, da ich im Gegensatz zu den anderen keine Uniform, sondern schäbiges Zivil trug. So fuhren die beiden Laster ohne mich ab. Ich war wieder einmal mit viel Glück davongekommen. Aber zu Hause war ich noch längst nicht.

Neuer Anlauf in Richtung Quedlinburg

Als wieder Ruhe eingekehrt war und die Menge sich zerstreut hatte, nahm ich einen neuen Anlauf Richtung Quedlinburg. Diesmal eingedenk meiner Erfahrungen nicht auf der Straße, sondern querfeldein an Harzgerode vorbei. Auf der Höhe, ein Stück hinter dem inzwischen aufgegebenen Sportplatz, stieß ich auf die kurvenreiche, stark abfallende Straße nach Mägdesprung. Hinter einer Biegung hieß es plötzlich „Halt! Stehenbleiben“. Ich war auf eine deutsche Einheit mit einigen Sturmgeschützen gestoßen. Man hatte es mir ja in Hermerode prophezeit. Ein Leutnant befehligte die Truppe und nahm mich ins Verhör. „Woher? Wohin? Wie alt? Zu feige zu kämpfen? Deserteure werden erschossen.“

Leutnant Lachmayer ebnet den weiteren Weg

Das klingt mir noch heute in den Ohren. Man setzte mich etwas abseits, und ich sah, wie sich der Leutnant mit einem Feldwebel beriet. Nach einigen Minuten kam der Leutnant zurück. Ich stand auf und nahm vorsichtshalber Haltung an. „Sie waren Flakhelfer und wollen nach Quedlinburg? Kennen Sie den Buchdruckereibesitzer Fritz Kümmel?“ Ich kannte ihn dem Namen nach, denn er hatte bis 1934 das Quedlinburger Tageblatt herausgegeben. „Das ist mein Onkel. Suchen Sie ihn auf und grüßen Sie ihn von Leutnant Lachmayer. Ich erwarte, dass Sie sich sofort beim Werwolf melden, der den Kampf gegen den Feind im Harz führt.“ Mit einem „Jawohl, Herr Leutnant“, knallte ich die Hacken zusammen. Ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, denn er hätte auch anders entscheiden können.

Zuzug aus Weimar

Erleichtert zog ich von dannen. Am späten Abend kam ich ohne weitere Zwischenfälle in Quedlinburg an. Müde, abgerissen, entkräftet von den Strapazen, aber glücklich, dass ich wieder zu Hause war. Meine Mutter und meine Geschwister saßen im Luftschutzkeller. Die Amerikaner beschossen die Stadt, zerstörten einen Turm der Stiftskirche und beschädigten einige Häuser um den Schloßberg herum. Am nächsten Tag suchte ich die Meldestelle im „Grünhagenhaus“ am Markt auf. Die Behörde war geöffnet als sei es das Normalste von der Welt. Als „Zuzug aus Weimar“ wurde ich registriert, wie in dem Schriftstück vermerkt ist, das ich heute noch besitze. Ich war wieder ein Quedlinburger Oberschüler. Am Tag darauf besetzten die Amerikaner die Stadt.

Beim Werwolf habe ich mich natürlich nicht gemeldet. Fritz Kümmel habe ich später persönlich kennengelernt und ihm von der Geschichte mit seinem Neffen erzählt. (mz/oml)