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Wahl-Forum Wahl-Forum: Ein Abend der Fremdscham

24.03.2021, 08:55
Wahlforum mit Höhen und Tiefen: Die sieben Naumburger Oberbürgermeister-Kandidaten präsentieren  sich den Zuschauern im Euroville.
Wahlforum mit Höhen und Tiefen: Die sieben Naumburger Oberbürgermeister-Kandidaten präsentieren  sich den Zuschauern im Euroville. Torsten Biel

Die traurige Wende des Montagabends im „Euroville“ lässt sich auf Benjamin Bossone und Stefan Bouillon herunterbrechen. Vor 18.30 Uhr haben sich viele Naumburger sicher gefragt: „Was haben denn der Bayer und der Typ aus Nordrhein-Westfalen ausgerechnet hier zu suchen?“ Nach 21.30 Uhr werden sich hingegen wohl Bossone und Bouillon gefragt haben: „Was hab’ ich denn ausgerechnet hier zu suchen?“

Im Anschluss an das Wahlforum bestimmten die Worte „peinlich“ und „beschämenswert“ die Auswertungen, analog wie digital - und das von Bürgern, die doch so stolz auf ihre Stadt sind und sein dürfen. Aber bevor wir zur Frage kommen, ob das ein rein Naumburger Problem ist, soll all jenen, die weder vor Ort waren noch den kurz vor der Angst eingerichteten Live-Stream der Stadtverwaltung angeschaut haben, erklärt werden, was denn so negativ auffiel.

Einfach mal alles rausplautzen

Um mit dem Auffälligsten anzufangen: Kandidat Mark Kipper, der, wie er sagte, „eh kein Politiker werden will“, nutzte die Gelegenheit, um einfach mal alles rauszuplautzen, was ihm nicht passt. In petto: wildeste Verschwörungstheorien - die TWN zerstören zum Beispiel den Blütengrund, und irgendwer hat in Leuna die Industrie plattgemacht, was Kipper in eine Antwort zu Naumburgs Ortsteilen einstreut. Kipper ließ sich zusammenhanglos aus, schrie „ich lasse mich nicht unterbrechen“, als er zum fünften Mal vom überforderten Moderator zur Ordnung gerufen wurde. Man befürchtete schon, es bedürfe eines Polizeieinsatzes, ehe es Kipper - der etwa ein Dutzend Mal erwähnte, dass er Barkeeper ist - gut sein ließ und seine Forderungsliste zerknüllte. Immerhin: In alle Peinlichkeit mischte sich am Ende sein einziger Lacher, als er ein dreimonatiges Kirschfest „ohne Sperrzeit“ versprach.

Das Traurige an diesem Abend war aber nicht Mark Kipper. Solche „Exoten“, um es nett ausdrücken, gibt es immer mal. Aber Kipper war nur die Spitze des Peinlichkeits-Eisbergs. Das klingt hart, aber auch wenn man abzieht, wie nervös man bei einem solchen Forum sein darf, dass es nur verständlich ist, wenn man sich mal verhaspelt oder etwas verwechselt, aber auch ein Holm Mika muss sich fragen, ob man nicht zumindest halbwegs vorbereitet zu einer solchen Veranstaltung kommen sollte.

"Wenn es mir zu viel wird, kann ich ja wieder zurücktreten"

Sein Satz „Wenn ich gewählt werde und es mir dann zu viel wird, kann ich ja wieder zurücktreten“ sprach da Bände. Wenigstens hielt sich Mika an Zeitvorgaben, was man über Armin Müller, der im Eingangsmonolog viermal vom Moderator erfolglos gemahnt wurde, ehe ihn Benjamin Bossone zur Räson brachte, nicht sagen kann.

Die Rolle des sympathischen Außenseiters, der hemdsärmelig und unbürokratisch anpacken will, versuchte Marcus Runge zu besetzen. Das hatte Charme und tut der Demokratie gut, weshalb man auch nicht allzu böse fragen möchte, ob man bei Themen, mit denen man nicht so intensiv vertraut ist, eher Zurückhaltung üben sollte. Die Reichskrone „abzureißen“, so wie Runge kurzerhand fordert, ohne den Denkmalschutz im Kopf zu haben, oder Gespräche zwischen Stadt und Blütengrund-Eigentümer zu verlangen, obwohl das eins ist, seien als kleine Auswahl genannt.

Trauerspiel Blütengrund

Wobei: Holm Mika entwickelte gleich mal Ideen, was mit den drei Saaleschiffen passieren soll, wenn es mit der Schifffahrt nicht mehr klappt (eine: den Straßenbahnern schenken) - und verfügte da so schwuppdiwupp über fremdes Eigentum. Überhaupt: der Blütengrund. Ohne Zweifel ein Trauerspiel, bei dem sich die Stadtverwaltung nicht mit Ruhm bekleckert hat. Aber Fährmann Schmidt als Heiligen hinzustellen? Bevor man das macht, sollte man mal mit denen sprechen, die sich seit einem Jahrzehnt an Schmidts sehr klaren, um nicht zu sagen sturen Vorstellungen die Zähne ausbeißen. Stefan Bouillon meinte dazu, er als Anwalt wisse, dass man da einen strengen Vertrag aufsetzen muss, und sprach - aber ungewollt - an, warum es am Blütengrund nicht vorwärtsgeht, wo Recht und Gesetz eher nur so als Idee, denn als Verpflichtung angesehen werden.

Aber nicht viel besser als manche Kandidaten präsentierten sich einige Fragesteller: Ein Zuschauer gefiel sich in der Idee, man müsse Naumburg wegen Nikolaus von Amsdorf als Geburtsstadt des evangelischen Glaubens zum Pilgerort machen. Schöne Idee, wenn der Herr sie einmal und nicht immer und immer und immer und immer wiederholt hätte. Auch hier war ein Polizeieinsatz zu befürchten. Den traurigen Höhepunkt in puncto Zuschauer setzte aber Jörg Schütze. Er sprach mit dem Konflikt „Henrik Schumann versus Naumburger Gemeinderat“ zwar ein wichtiges Thema an, ließ sich aber ebenfalls von nichts und niemandem im Redefluss stoppen. Man hätte es Schütze vielleicht nachgesehen, wüsste man nicht, dass der CDU-Mann als Gemeinderatsvorsitzender (!) sonst den Job hat, Diskussionen in geordneten Bahnen zu halten. Vorbildrolle? Fehlanzeige!

Bleibt die Frage, ob das am Montagabend ein Naumburg-spezifisches Fiasko war. Die tröstende Antwort: nein. Denn wer ein paar Stunden seiner Lebenszeit verschenken möchte, um sich durch die Kommentarspalten von Facebook zu klicken, wird feststellen: Dort ist diese Diskussionskultur gang und gäbe. Die seltene Gattung der durchdachten Argumente verläuft sich dort im Wust aus Beschimpfungen, substanzlosen Behauptungen und einem schier endlosen Selbstbewusstsein, zu allem eine profunde Meinung zu haben. Gefragt nach einem konkreten Projekt sagte Stefan Bouillon den erstaunlichen Satz: „Dazu muss ich mich erst informieren, bevor ich mir eine Meinung bilden kann.“