Lebensgeschichten vor und nach dem Mauerfall Lebensgeschichten vor und nach dem Mauerfall: Abgewickelt und abserviert
Halle (Saale)/Merseburg - „Über 40 Prozent der Menschen hier im Osten waren mindestens einmal arbeitslos. Doch in den Medien war kein Platz für die kleineren und größeren Nöte der Ostdeutschen, die sich nach dem Mauerfall neu erfinden mussten“, sagt Katrin Rohnstock, Herausgeberin des Buches „Mein letzter Arbeitstag. Abgewickelt nach 89/90: Ostdeutsche Lebensläufe“. Rund 50 Frauen versammelten sich anlässlich der Buch-Premiere zum 25. Jahr der Deutschen Einheit in der Galerie „Tiefer Keller“ in Merseburg, zu der Angelika Hunger, Landtagsabgeordnete der Linken, eingeladen hatte. „Die Geschichte der DDR-Wirtschaft ist aus der Sicht derer, die sie miterlebten, noch nicht erzählt“, so Rohnstock, die sich mit ihrem Berliner Unternehmen auf das Schreiben von Autobiografien, Familien-, Firmen- und Ortsgeschichten spezialisiert hat.
Auf 336 Seiten erzählen sieben Frauen und 23 Männer ihre Lebensgeschichte, geben Auskunft über ihr Arbeitsleben in der DDR und dessen abruptes Ende. Denn mit dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft 1989/90 verloren Millionen Deutsche ihre Arbeitsplätze, Betriebe wurden im Zuge dessen geschlossen und Industrien brachen zusammen.
Eine der sieben Frauen, die ihre Lebensgeschichte erzählen, ist Claudia Rößger, gebürtige Erfurterin. Ihre Arbeitshistorie mit dem Titel „Letzte Schritte mit neuen Schuhen“ verfasste die heutige Autorin selbst. Nachdem Rößger im VEB Kombinat Schuhe Weißenfels ihre Ausbildung absolvierte, delegierte der Lederwaren-Betrieb die damals 18-Jährige zum Studium der Textil- und Ledertechnologie nach Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz).
„Mit dem Titel Diplom-Ingenieurin fing ich 1989 als technische Zeichnerin im Schuhkombinat an. Doch nach wenigen Monaten wurde die Industrie eingestellt, und ich war arbeitslos“, erinnert sich Rößger. Beim Arbeitsamt sei sie als überqualifiziert abgestempelt worden. Auf eigene Faust habe sie sich umorientiert und sei bis heute im Journalismus tätig. „Ich hatte eine Vorstellung vom Leben. Doch ich kämpfe bis heute, und es war nicht immer einfach“, sagt sie.
Viele Reaktionen
Bereits als die Autorin ihre eigene Geschichte vorlas, gab es viele Reaktionen im Publikum. „Ich habe mich ein Stückchen in der Geschichte wiedererkannt. Zwar war ich selbst nie arbeitslos, aber im Verwandten- und Bekanntenkreis hatte es viele getroffen“, schildert Lilian Geier, die in der DDR in einem Rechenzentrum tätig war. „Ich war nicht betroffen. Dazu gehörte aber sicher auch ein Quäntchen Glück“, sagt Ute Klein aus Merseburg, die mit der Frauengruppe „50 plus“ zur Buchlesung erschien. In der DDR habe die Rentnerin als Sozialpädagogin gearbeitet.
Es gab aber auch andere Schicksale. „Einen Tag vor Schulbeginn wurden mit mir sechs Lehrer der Polytechnischen Oberschule in Merseburg-Süd entlassen. Ich war 49 Jahre alt und arbeitslos. Der Lehrerberuf war mein absoluter Traumjob“, erzählt eine der anwesenden Damen. Bis zu ihrer Rente habe sie dann als Altenpflegerin gearbeitet.
„Die Resonanz auf das Thema ist groß. Viele haben uns dabei unterstützt“, sagt Rohnstock. Mit dem Abstand von 25 Jahren seien die Erinnerungen erfahrungsgemäß wiedergekommen. Nachdem die in Jena geborene Germanistin 1998 ihre Firma „Rohnstock Biografien“ gründete, veröffentlichte sie zahlreiche Publikationen. Ihr Wissen als Autorin und Herausgeberin reicht sie in Seminaren weiter. (mz)
Weitere Informationen im Internet unter der Adresse: www.rohnstock-biografien.de