Anschlag auf Weihnachtsmarkt in Magdeburg Größer als der NSU-Prozess? Was über die Verhandlung gegen Taleb A. bekannt ist
Am Montag, dem 10. November, hat der Prozess gegen Taleb A. begonnen. Eigens dafür wurde ein temporärer Gerichtssaal am Jerichower Platz errichtet. Grund dafür ist die außerordentliche Dimension des Verfahrens nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zu der Verhandlung.

Magdeburg. – Es war ein Verbrechen unfassbaren Ausmaßes. Am Abend des 20. Dezembers 2024 fuhr der in Deutschland als Mediziner tätige Migrant Taleb A. mit einem geliehenen Fahrzeug auf das abgesperrte Gelände des Magdeburger Weihnachtsmarktes und raste etwa 300 Meter durch die Menschenmenge.
Ein neunjähriger Junge sowie fünf Frauen im Alter von 45 bis 75 Jahren kamen dabei ums Leben, mehr als 200 Menschen wurden verletzt.
Nach Anschlag auf Weihnachtsmarkt: Gerichtssaal in Magdeburg gebaut
Nun wird ihm der Prozess gemacht. Eigens dafür ist am Jerichower Platz in Magdeburg ein temporärer Gerichtssaal errichtet worden. Am 10. November hat dort der Prozess gegen den in Untersuchungshaft sitzenden Todesfahrer begonnen.

Wir berichten über den Prozessauftakt in Magdeburg mit einem Liveticker.
Was über die Ermittlungen und den Prozessauftakt bekannt ist.
Was ist im Dezember auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt passiert?
Es herrschte reges Treiben auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt am Alten Markt, als Taleb A. im vergangenen Jahr vier Tage vor Heiligabend mit einem gemieteten BMW X3 und hoher Geschwindigkeit in die Menschenmenge fuhr.
Nach Polizeiangaben war Taleb A. über einen nicht durch Sperren oder Poller geschützten Rettungsweg dorthin gelangt. Der Täter floh, konnte aber nach einigen Minuten an der Ecke Breiter Weg neben der Straßenbahnhaltestelle Allee-Center von Polizisten festgenommen werden.
Video: Anschlag in Magdeburg: Prozess gegen den Attentäter beginnt am 10. November
(Bilder/Kamera: Archiv mgm Digital/ MDF1, Bericht/Schnitt: Christian Kadlubietz)Hinweis: Sollte das Video nicht angezeigt werden, laden Sie bitte Ihren Browser neu.
Was ist über den Täter Taleb A. bekannt?
Taleb A. wurde 1974 in Saudi-Arabien geboren, war in Bernburg ansässig und seit 2020 als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie für das Gesundheitsunternehmen Salus im Maßregelvollzug Bernburg tätig, wo er suchtkranke Straftäter betreute.
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Bereits im Vorfeld sollen deutsche Sicherheitsbehörden vor dem Mann gewarnt worden sein, der in sozialen Netzwerken immer wieder Gewaltfantasien gegen den deutschen Staat äußerte.
Auch Kollegen von Taleb A. hatten einige Monate vor dem Anschlag Hinweise an Vorgesetzte gemeldet, dass der Stationsarzt immer wieder verlauten ließ, er befinde sich "im Krieg": gegen ein Land, das angeblich weltweit saudische Bürger jage, die sich vom Islam abgewandt hätten.
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Warum braucht es für den Prozess gegen den Attentäter ein neues Gerichtsgebäude?
Am 10. November hat nun der Gerichtsprozess gegen den Attentäter begonnen. Laut Justizministerium sind die bestehenden Gerichtssäle in Sachsen-Anhalt zu klein und erfüllen nicht die nötigen Sicherheitsstandards.
Aus diesem Grund ist ein temporärer Gerichtssaal errichtet worden: 2.000 Quadratmeter groß, mit Platz für 700 Menschen und höchsten Sicherheitsvorkehrungen.
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Dazu kommen Räume für Polizei, die Haftunterbringung des Angeklagten und auch ein Pressebereich für bis zu 200 Journalisten. Insgesamt umfasst das Gebäude rund 4.700 Quadratmeter. Baustart war Juni 2025, das Justizministerium beziffert die Ausgaben seit Beginn der Planungen auf eine einstellige Millionensumme.
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Welche Sicherheitsmaßnahmen bietet das Interimsgericht in Magdeburg?
Das Gerichtsgebäude ist winterfest sowie gegen Sturm und Hagel gerüstet. Es bietet einen Haftraum für den Angeklagten, ein umfangreiches Evakuierungskonzept in Abstimmung mit der Polizei und Barrierefreiheit. Im Außenbereich gibt es eine mobile Poller-Anlage als Überfahrtschutz. Zudem erfüllt der gesamte Bereich alle nötigen Brandschutzauflagen.
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Der Gerichtssaal verfügt über einen verglasten und schusssicheren Sicherheitsbereich. In ihm sitzen der Angeklagte Taleb A. und seine Verteidiger. Direkt gegenüber des Glaskastens sitzen die Nebenkläger und ihre Anwälte.
Insgesamt bietet die Tribüne Platz für 450 Personen. Die Zuschauer und Medienvertreter sitzen hinter einer Glasfront mit 200 Plätzen, hören die Verhandlung nur aus Lautsprechern. Insgesamt bietet der Gerichtssaal Platz für 700 Personen.
Wie viele Nebenkläger werden bei dem Prozess gegen Taleb A. erwartet?
Bisher haben 177 Betroffene einen Antrag auf Nebenklage gestellt. Im Verlauf des Verfahrens können jedoch weitere Kläger hinzukommen. Die Zahl der Nebenkläger könnte bis auf 327 steigen.
Sind Zuschauer bei dem Prozess gegen Taleb A. zugelassen?
Bis auf wenige Ausnahmen sind Strafgerichtsprozesse in Deutschland öffentlich. In Einzelfällen kann jedoch die Kapazität begrenzt werden.
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In den Prozess sind bewusst Zuschauer einberechnet, da dies zu einem öffentlichen Strafverfahren dazugehört. Wie viele Beobachter bei solch einem Prozess erlaubt sind, legt der Vorsitzende Richter in einer Anordnung fest.
Wie viele Verhandlungstage sind für den Prozess in Magdeburg angesetzt?
Der Prozess um den Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt hat am 10. November begonnen. Insgesamt 46 Prozesstage haben die Richter angesetzt, durchschnittlich finden drei Verhandlungstage pro Woche statt. Ein Urteil soll voraussichtlich im März 2026 gefällt werden.
Warum dauert der Prozess um den Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt so lange?
Wegen der hohen Zahl der Opfer und der unfassbaren Menge an verursachtem Leid wird sich der Prozess in die Länge ziehen. Alle Betroffenen müssen durch Anwälte gehört werden.
"Diese Anwälte werden Fragen stellen. Diese Anwälte werden vielleicht Beweisanträge stellen. Diese Anwälte geben Erklärungen für ihre Mandanten ab", sagte Henning Rosenau, Hochschullehrer der Universität Halle-Wittenberg mit Schwerpunkt auf Strafprozessrecht, gegenüber dem MDR.
Rosenau weiter: "Und wenn das jeder von denen tut – und viele werden es tun, einfach weil sie auch zeigen müssen, dass sie ihr Geld sozusagen wert sind, auch wenn das vom Staat bezahlt wird – dann geht so ein Verfahren sehr schnell über mehrere Wochen",
Das jetzige Prozessrecht sei auf derartige nicht Massenverfahren ausgelegt. Für den Hochschullehrer ist es offensichtlich, "dass ab einem bestimmten Zeitpunkt im Prozess (...) das 50. Opfer dann auch keine neuen Erkenntnisse mehr für das Strafverfahren bringen kann."
Warum hat es bis zum Gerichtsverfahren fast 11 Monate gedauert?
Die lange Zeit bis zum Prozessbeginn liegt an der außergewöhnlichen Komplexität des Verfahrens. Beim Anschlag kamen sechs Menschen ums Leben, mehr als 300 wurden verletzt – aktuell treten 177 Betroffene als Nebenkläger auf und die Zahl kann während des Verfahrens noch ansteigen.
Während den Ermittlungen mussten zahlreiche Gutachten erstellt, Zeugen vernommen und technische Analysen angefertigt werden. Zudem musste geklärt werden, ob der Fall beim Generalbundesanwalt oder beim Landgericht Magdeburg verhandelt wird.
Weil die vorhandenen Gerichtsgebäude den Sicherheits- und Platzanforderungen nicht genügten, musste eigens ein provisorischer Gerichtssaal errichtet werden. Zudem mussten alle am Prozess teilnehmenden Parteien das Recht auf Akteneinsicht und eine angemessene Vorbereitung auf die Gerichtsverhandlung bekommen.
Welcher Richter leitet den Prozess gegen den Attentäter von Magdeburg?
Für die Rechtsprechung im Prozess um den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt ist die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Magdeburg verantwortlich. Sie besteht aus drei Berufsrichtern und zwei Schöffen.
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Der Vorsitzende Richter ist Dirk Sternberg. Der 65-Jährige leitet bereits seit mehr als zehn Jahren das Schwurgericht in Magdeburg. Er ist als ruhiger und rationeller Richter bekannt.
Was passiert nach dem Prozess mit dem Gerichtsgebäude?
Das Gerichtsgebäude am Jerichower Platz ist nur als Interimsgerichtssaal konzipiert. Soll heißen: Das Landgericht Magdeburg mietet ihn nicht länger als für den Prozess notwendig.
Der Bauherr, eine Spezialfirma für temporäre Bauten, wird die Verhandlungsstätte nach Prozessende wieder abbauen. Eine dauerhafte Nutzung ist weder von Land noch Gericht vorgesehen.
Umfangreicher als der NSU-Prozess in München?
Laut Justizministerin Franziska Weidinger (CDU) könnte der Prozess in Magdeburg zu einem der größten in der Nachkriegszeit in Deutschland werden. Dass der Prozess um den Anschlag in Magdeburg das NSU-Verfahren übertrifft, ist jedoch unwahrscheinlich.
Das NSU-Verfahren wegen zehn Morden, Sprengstoffanschlägen und Raubüberfällen aus dem Rechtsextremistenlager war der größte Prozess der Nachkriegszeit. Erst 2018, am 438. Verhandlungstag und nach fünfjähriger Prozessdauer, konnte das Urteil gesprochen werden.
"Der NSU-Prozess war ein Prozess, der vergleichbar ist mit dem jetzt in Magdeburg. Vielleicht noch einmal eine Dimension größer. Aber von der Problematik her völlig die gleiche Sachlage", sagte Henning Rosenau im MDR.
Rosenau rechnet sogar damit, dass der Prozess um den Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt zu einer Reform des Prozess- und Verfahrensrechts führen könnte.
Warum wir den Taleb A. pixeln
Sechs Menschen starben, Hunderte wurden verletzt: Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg ist das schwerste Gewaltverbrechen in der Geschichte Sachsen-Anhalts. Diese Tat hat auch über die direkt Betroffenen hinaus viele Menschen in unserem Land erschüttert und traumatisiert. Wie konnte das passieren?
Als freie Presse sind wir in der Pflicht, die Aufarbeitung des Anschlags unabhängig, kritisch und detailliert zu begleiten. Insbesondere das staatliche Handeln zu hinterfragen, ist unsere Aufgabe. Und wir wollen grundsätzlich die Bedürfnisse der Opfer und der Betroffenen in den Mittelpunkt stellen. Deswegen werden wir im anstehenden Prozess jenen Menschen, die so fürchterlich Schaden nahmen durch diese Tat, viel Raum geben.
Das wird nicht immer leicht sein, für Sie als Leser und Leserin, aber auch für uns als Journalisten. Die Betroffenen haben es aber verdient, dass wir sie sehen und hören und Anteil nehmen. Und es ist nötig, damit unsere Gesellschaft in diesem Bundesland diese immer noch unfassbare Tat verarbeiten kann.
Wir wollen vor allem den Opfern ein Gesicht geben: Mit Fotos des Täters gehen wir deshalb zurückhaltend um. In allen von uns verfassten Artikeln wird daher der Angeklagte stets unkenntlich gemacht und sein Name als Taleb A. abgekürzt.