Köthen Köthen: Leerer Tank oder leerer Magen
KÖTHEN/MZ. - Der Preismast ist entscheidend. Das ist diese große Anzeigetafel an den Tankstellen. Erst schaue der Fahrer auf die dort angegebenen Kraftstoffpreise, dann lenke er sein Auto an die Zapfsäule, tankt und kauft vielleicht noch Zigaretten, Donuts, Brötchen, Margarine oder was sonst gerade im Haushalt fehlt - oder er fährt weiter.
An jenem Montag zwischen 13 und 14 Uhr mögen wohl einige Autofahrer enttäuscht wieder umgekehrt sein. Wie Martin John, Pächter der Jet-Tankstelle in der Leipziger Straße in Köthen berichtete, sei sonst gerade um diese Zeit immer besonders viel Betrieb, weil da Benzin- und Dieselpreis für gewöhnlich etwas heruntergehen. Doch diesmal nützten alle gespannten Blicke nichts, am Preismast bewegte sich keine Zahl.
Wo hat Martin John überhaupt dieses Gerät, mit dem er die Benzinpreise "rauf- oder "runtersetzt? Der Mann musste lachen. "Die Preise mache ich doch nicht!" Die würden von der Zentrale in Hamburg über eine Datenleitung direkt an die Anzeigetafeln übermittelt.
Nicht selten werden Martin John und seine Mitarbeiter von der Preisbewegung überrascht. Da zeigt die Tafel auf einmal drei oder vier Cent weniger pro Liter an, und schon gibt es einen Ansturm. "In solchen Fällen brauche ich nur anrufen und sagen, dass viel Kundschaft da ist", erzählte er. Die Antwort laute stets: "Klar komme ich." Da zeige sich das gute Betriebsklima, immerhin seien seine Mitarbeiterinnen Anneliese Wehe, Dolores Göckeler und Ellen Schmidt vom ersten Tag an dabei, also seit 1993, als John die Tankstelle übernommen hat.
Eine junge Frau betrat als erste in dieser Stunde den Shop und wirkte etwas enttäuscht. "Ich tanke immer hier und weiß, dass um die Zeit der Preis meistens "runter geht. Diesmal eben nicht", seufzte die Köthenerin. Getankt hat sie trotzdem, aber nur für 20 Euro.
Das Tankverhalten der Leute sei nicht nur vom Benzinpreis, sondern auch vom Datum abhängig, verriet Pächter John: Am Monatsanfang, nach dem Zahltag, wird vollgetankt. So ab dem 20. tanken viele nur noch für eine bestimmte Summe, manchmal nur für zehn Euro, und bezahlen oft mit Hartgeld statt mit Scheinen. "Man merkt, dass Köthen keine große Kaufkraft hat", schlussfolgerte Martin John. Klar schimpfe ab und zu mal jemand an der Kasse über den hohen Benzinpreis. Das habe aber nachgelassen. "Mittlerweile wissen unsere Kunden, dass die Hauptverdiener bei Kraftstoffen nicht die Tankstellenpächter sind, sondern die Konzerne und der Staat" , sagt er.
In dieser Stunde tanken deutlich mehr Frauen als Männer. Eine ältere Frau verlangt nach dem Bezahlen den Toilettenschlüssel. Maria Tetzlaff, die gerade Dienst hat, überreicht ihr das an einem großen Anhänger befestigte Teil. Erst bei der Rückgabe wird dessen Funktion klar: Mit einer Drehscheibe am Schlüsselanhänger gibt die Kundin ihre Bewertung für den Zustand der Toilette kund: "Tüv bestanden" hat sie eingestellt.
Etwa einem Drittel der Kunden sind laut Pächter John die Benzinpreise völlig egal. Sie haben keinen Tank zu füllen, kommen zu Fuß oder mit den Rad, kaufen Butter, Wurst, Toastbrot, Kuchen, Brötchen, Tiefkühlpizza oder Blumen für einen Patienten im Krankenhaus. "Nicht selten kommen Kunden, die am Sonntag plötzlich Besuch bekommen haben", so Johns Erfahrung. Der Umsatz bei Lebensmitteln, im Backshop und bei der Autowäsche sei für den Tankstellenpächter das wichtigere Geschäft, während der Verkauf von Kraftstoffen gerade die Betriebskosten der Tankstelle decke.
Und tatsächlich haben in den letzten 40 Minuten zahlreiche Kunden nicht getankt, sondern Bier, Brötchen, Ketchup, Chips und immer wieder Zigaretten gekauft. Letztere seien die einzige Warengruppe, bei welcher der Umsatz steigt, trotz aller aufgedruckten Warnungen, sagte Pächter John, der betonte, auf den Jugendschutz werde peinlich geachtet. So erscheint denn auch, als ein Kunde Bier kauft, auf der Kassen-Anzeige die Frage: "Sind sie schon 18?"
Daniel Börner ist zwar mit dem Auto gekommen, verlangt von Maria Tetzlaff, die an der Kasse steht, aber nur eine Tüte Donuts. "Die habe ich letztes Mal gekauft und sie haben geschmeckt", sagt der Stammkunde, der ganz in der Nähe wohnt. "Bei vielen Kunden wissen wir schon, welche Zeitung, welche Schokolade oder Zigarettenmarke sie kaufen", sagte der Pächter. "Vor allem ältere Kunden freuen sich darüber, wenn wir ihre Wünsche schon kennen", ergänzte Maria Tetzlaff.
Das kann für die Tankstelle allerdings auch mal ungeahnte Folgen haben. Über Jahre hatte Martin John für einen Kunden eine spezielle Zigarettensorte bestellt, die sonst niemand verlangte. Als er dem Mann eines Tages die Schachtel wieder über den Tresen reichen wollte, meinte dieser zur allgemeinen Überraschung: "Nein danke, ich habe mit dem Rauchen aufgehört." "Es dauerte dann sehr lange, bis wir den Vorrat dieser Sorte verkauft hatten", muss John heute darüber schmunzeln.
Spezielle Produkte hat der Tankstellenpächter auch für den nächsten Kunden - einen chinesischen Studenten vom Wohnheim gegenüber - im Angebot. "Das ist für uns eine interessante Kundengruppe", bemerkte Pächter John und wies auf ein Regal mit dem "Extra-Sortiment" aus asiatischen Fertiggerichten, Asia-Nudeln, einer chinesischen Biersorte und weiteren exotischen Produkten hin.
Sechs Angestellte und ein Lehrling bedienen die Kundschaft der Jet-Tankstelle im Wechsel wochentags von 5 bis 23 Uhr, freitags bis sonntags sogar rund um die Uhr.
Immer mehr Erlebnisse aus den vergangenen 18 Jahren als Tankstellenpächter fielen Martin John ein. schmunzelnd erinnerte er sich an die Aktion "Kostenlos Tanken" mit einem privaten Rundfunksender im Jahr 2002, als die Autos von der Leipziger Straße bis zum Scheuderschen Gasthof standen, und an die Berufspendler, die mit vollem Tank und etlichen Stangen F6 gen Westen fuhren. "Ich könnte ein Buch schreiben", sagte der Tankstellen-Chef. Doch die Stunde war vorüber.