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Erinnerung in Köthen Erinnerung in Köthen: Von Handel und Wandel

Von Ute Hartling-Lieblang 23.04.2014, 17:38
14 Jahre arbeitete der Köthener in der Gröbziger Spinndüse.
14 Jahre arbeitete der Köthener in der Gröbziger Spinndüse. Heiko rebsch Lizenz

Köthen/MZ - Auf die Idee, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, kam Fritz Dolge (82), als er vor rund fünf Jahren im Diakonissenkrankenhaus in Dessau auf eine Operation wartete. „Zum Ablenken von den miesen Gedanken, die einem da kommen“, wie er sagt. Sein Buch, das 2009 im Internet-Verlag Books on Demand GmbH erschien, trägt den Titel „Vom Schwarzmarkthändler zum Diplomingenieur“. Auf rund 200 Seiten beschreibt der gebürtige Köthener Kindheits- und Jugenderlebnisse, gibt Einblicke in seine Tätigkeit als Leiter einer HO-Verkaufsstelle und berichtet über seinen beruflichen Aufstieg im VEB Förderanlagen- und Kranbau sowie in der Spinndüse Gröbzig zwischen 1960 und 1990. Die vielen kleinen Geschichten und Anekdoten, die der Köthener erzählt, sind zugleich ein Stück Stadt- und Kreisgeschichte.

Fritz Dolge ist im Juni 1932 als Sohn des Geschirrführers Franz Karl Dolge und des Hausmädchens Helene Agathe Zywicki geboren. Seine Kindheit hat er bis zum 11. Lebensjahr in der Neustädter Straße in Köthen verbracht. Die Familie wohnte in der Nr. 10 bei Dachdeckermeister Benecke, bei dem der Vater kurzzeitig gearbeitet hat. Das Schieferdach der Jakobskirche hat er mit eingedeckt. Am Neustädter Platz traf sich Fritz Dolge oft mit seinen Freunden zum Spielen. „Man ließ uns gewähren. Nur wenn wir auf die Kastanienbäume kletterten, gab’s Ärger mit dem Buschklepper“, berichtet er.

Eingeschult wurde Dolge in der Volksschule Augustenstraße, später wechselte er in die Mittelschule (heute Naumannschule).

Schon als Bengel verstand er sich aufs Geschäfte-Machen. So beschreibt er u.a., wie er sich von Strafarbeiten in der Schule freikaufte: „Für einen Nachmittag auf dem Acker Rüben verziehen erhielt man z.B. 30 Pfennige und 50 Gramm Fleischmarken, die man dann bei Faltix an der Würstchenbude umsetzen konnte“.

1943/44 wurde die Schule am Markt zum Lazarett für verwundete Soldaten. Die Schüler mussten schichtweise ins Hauptgebäude des Polytechnikums in der Bernburger Straße umziehen.

Kindheit und Krieg

Auch von kindlichem Leichtsinn ist in dem Buch die Rede. Dass er nach einem Regenguss die nassen Klamotten auf dem Leibe trocknen ließ, um nicht als Memme zu gelten, sollte sich rächen: „Die Lungentuberkulose, also die Motten, hatten mich erwischt“, schreibt er. Monate später musste er wegen Verdacht auf Bauchwassersucht ins Krankenhaus Süd, das eigentlich als „fliegertechnische Vorschule“ gebaut worden war. Die Krankenzimmer waren ehemalige Klassenzimmer, in denen acht Betten standen. Obwohl die Mutter für ihn schon das letzte Sakrament bestellt hatte, wurde der Junge nach drei Monaten gesund entlassen. Die Zeit im Krankenhaus hat er sich mit dem Studium von Knauers Konversationslexikon vertrieben, dem er sein „breites Allgemeinwissen zu verdanken“ hat, wie er sagt.

Zu Dolges Kindheitserinnerungen gehört auch der Zweite Weltkrieg. Im Buch beschreibt er u.a. den Brand der Synagoge in der Burgstraße, der an einem Nachmittag im November 1938 dicke Rauchschwaden durch die Stadt ziehen ließ. Doch die Feuerwehr rettete nicht etwa das Gebäude, sie verhinderte lediglich das Übergreifen auf die benachbarten Häuser. In den letzten Kriegstagen waren die Junkerswerke weitgehend evakuiert. Bei Luftangriffen sollten sie dem Erdboden gleichgemacht werden, schildert Dolge. Als am 14. April 1945 ein Teil der 3. US-Panzerdivision südwestlich von Köthen Stellung bezog, konnte man den einzigen getroffenen Panzer der Amerikaner noch Tage später in der Friedensallee besichtigen.

Die Amerikaner quartierten sich in der Thomas-Mann-Straße ein. Die Mieter mussten auf die Dachböden ziehen. „In der Nr. 19, wo ich später 40 Jahre gewohnt habe, waren tapezierte Bodenkammern noch bis zum Abriss der Häuser 2004 zu sehen“, schreibt Dolge.

Weil die Versorgung der Bevölkerung nach dem Krieg nur sehr schleppend vorankam, blühte der Schwarzhandel. Arbeit war kaum vorhanden, Plünderungen deshalb an der Tagesordnung. Solche Übergriffe gab es zum Beispiel auf ein Versorgungslager der Wehrmacht, das die Amerikaner von Coswig in die Köthener Malzfabrik verlegt hatten, oder einen gesunkenen Schleppkahn mit Rohtabak in Aken.

Während die Amerikaner vorhandene Kriegsreserven verteilten, brachten die später in Köthen einziehenden Sowjets eine Notversorgung in Gang, indem sie den Bauern Pflichtabgaben auferlegten, erinnert sich Fritz Dolge.

Bei Schwarzmarktgeschäften war auch er mittendrin. Im Eck-Geschäft am Bärplatz befand sich damals eine Annahmestelle der Tabakfabrik Glauzig. Für ein Kilo Rohtabak bekam man 1 000 Zigaretten, sechs Pfennig das Stück, für die auf dem Schwarzmarkt wiederum 3 000 Reichsmark erzielt werden konnten. Beim „Schiebchenball“ im Schützenhaus an der Bärteichpromenade fand Dolge jede Menge Kunden. Auch zum Schwarzmarkt am Berliner Bahnhof Zoo zog es ihn. Später, als Besitzer eines Motorrades, galt es, billig Kraftstoff zu organisieren. An der Tankstelle kostete der Liter regulär 4 Mark, auf dem Schwarzmarkt 2,50 und bei den Russen bekam man ihn im Tausch gegen Schnaps für nur 1,50 Mark.

Von der HO in die Industrie

Seinen beruflichen Werdegang begann Fritz Dolge mit einer Kaufmanns-Lehre bei Eisen Hartmann in Köthen, später wurde er Dekorateur bei der Konsumgenossenschaft Dessau-Köthen. Nach der Gebietsreform 1950, bei der der Landkreis Dessau-Köthen getrennt wurde, war er verantwortlicher Dekorateur für die Köthener Lebensmittelverkaufsstellen. Sein Lohn betrug 240 Mark im Monat. Die HO in Schönebeck bot ihm zwei Jahre später 80 Mark mehr. In Schönebeck lernte Dolge seine Frau Inge kennen, die Verkaufsstellenleiterin bei der HO war. Im Februar 1953 gaben sie sich auf dem Standesamt der Stadt das Ja-Wort. 1954 verschlug es das junge Paar nach Köthen, sie zogen in die besagte Thomas-Mann-Straße 19. Die Dolges übernahmen 1954 die HO-Spätverkaufsstelle gegenüber dem Wasserturm in der Lohmannstraße, er als Leiter, sie als Verkäuferin. Doch in der Industrie konnte man erheblich mehr verdienen. Als Einkäufer bei Förderanlagenbau Köthen z.B. 500 Mark. Zunächst wurden dort aber nur Kran-Anhänger gesucht. Dolge griff zu. Schon Monate später wechselte er zum Wareneingang. Sein Bruder überredete ihn schließlich zum Maschinenbaustudium, was aber eine Ausbildung in einem Metallberuf voraussetzte. So landete Fritz Dolge in der Abteilung Massenbedarf. Förderanlagenbau fertigte damals in der Baasdorfer Straße (ehemals Maschinenbaubetrieb Nebrich) Schubkarren für die Bevölkerung.

Den Ingenieur in der Tasche, wechselte Fritz Dolge 1962 in die Konstruktion.

Als 1966 ingenieurtechnisches Personal für die Gröbziger Spinndüse gesucht wurde, bot man ihm den Posten des Technischen Direktors an. Betriebsdirektor war damals Werner Lochefeld - „33 Jahre lang einer der erfolgreichsten und langjährigsten Betriebsdirektoren der DDR“. Der Wechsel nach Gröbzig war für den Köthener keine leichte Entscheidung. Der erste Betriebsrundgang hat ihn überzeugt: „Der Betrieb war eine Wucht, supersauber und mit vorbildlichen sozialistischen Bedingungen.“ Die Spinndüse hatte damals 200 Mitarbeiter. Mit Hilfe von Ingenieuren und neuen Investitionen sollte das Deviseneinkommen erhöht werden. Dolge war für Forschung, Technologie, Neuerer- und Patentwesen sowie den Musterbau zuständig und stieg später zum Stellvertreter des Betriebsdirektors auf.

In jene Zeit fällt auch der Bau der Köthener Schwimmhalle. Auf einer Kreistagssitzung machte Dolge den Vorschlag, statt der geplanten Überdachung für das Freibad von Förderanlagenbau eine Schwimmhalle in Köthen zu bauen. Lochelfeld hatte er schnell auf seiner Seite, sollten doch auch die Frauen der Spinndüse Nutznießer sein. Die Gröbziger stellten Geld und „staatliches Bauvolumen in Höhe von einer Million Mark“ zur Verfügung. Andere Betriebe delegierten zeitweilig Arbeitskräfte ab. Der verantwortliche Bauleiter, Josef Missner, kam von Förderanlagenbau. Weil das Betonwerk nur fünf Schwimmhallen pro Jahr im Plan hatte, wurde das fehlende Kontingent über Umwege besorgt. Heute existiert die Schwimmhalle nicht mehr, sie wurde 2006 abgerissen.

Rückkehr nach Köthen

1966 kehrte Fritz Dolge zu Förderanlagen- und Kranbau zurück und wurde persönlicher Referent von Betriebsdirektor Jochen Güttner, ab 1989 von Martin Münstermann. In vier Jahrzehnten wurden dort über 125 Tagebaugroßgeräte und weit über 500 Krane in 32 Länder geliefert und montiert. Auch das bittere Kapitel der Zerschlagung von Förderanlagen- und Kranbau nach der politischen Wende beschreibt der Insider in seinem Buch. Er selbst schied 1997 offiziell aus dem Unternehmen aus, das heute zur Georgsmarienhütte Holding gehört. Die Gröbziger Spinndüse überlebte die Wende, wird aber noch 2014 nach Halle verlegt.

Seit 2003 lebt Fritz Dolge in der Franz-Mehring-Straße in Köthen. Er hat zwei Kinder, vier Enkel und zwei Urenkel. Für sie und seine verstorbene Frau hat er das Buch geschrieben; und für alle, die es lesen möchten (siehe Kasten).

Fritz Dolge steht auch beim Fotografieren zu seiner Krankheit, die ihn zwingt, ständig Sauerstoff über einen Apparat zuzuführen.
Fritz Dolge steht auch beim Fotografieren zu seiner Krankheit, die ihn zwingt, ständig Sauerstoff über einen Apparat zuzuführen.
Heiko rebsch Lizenz
Das zerlesene Lexikon
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