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100 Jahre nach der Amanat-Plombe

Von Sylke Hermann 11.04.2008, 16:55

Köthen/MZ. - Die Zeiten haben sich geändert. Gert Gruse hat sonntags geschlossen. In dieser Hinsicht wenigstens eifert er dem Urgroßvater nicht nach. Was allerdings die Wahl seines Berufes angeht, so habe er nicht wirklich eine Wahl gehabt. "Jeder in unserer Familie war Zahnarzt." Gruse, der ansonsten vermutlich Meeresbiologe geworden wäre, fügte sich seinem Schicksal ohne Groll und studierte - natürlich Zahnmedizin. Ein Beruf, der ihn seit jeher ausfüllt. Und am Freitag wäre ohnehin kein guter Zeitpunkt gewesen, der Meeresbiologie nachzuhängen. Am Freitag wurde gefeiert: 100 Jahre Zahnmedizin in der Augustenstraße 5 in Köthen.

Gert Gruse führt die Praxis, deren Eröffnung sein Urgroßvater Friedrich Kayser am 8. April 1908 im Cöthener Tageblatt per Annonce bekannt gegeben hatte, in vierter Generation. Schon damals sei die Praxis recht fortschrittlich gewesen. So warb man beispielsweise für neueste Produkte, wie die dem Zahnschmelz täuschend ähnliche Amanat-Plombe. Besonders auch, dass Gruses Urgroßmutter Helene selbst als Dentistin praktizierte, sogar eigene Sprechzeiten für Damen und Kinder anbot. Wer wollte, konnte die Kosten der Behandlung in Raten abstottern. Und wie fortschrittlich das Medizinerpaar eingestellt war, zeigte die Eröffnung von "Kaysers Reform-Zahninstitut", inklusive Laboratorium und eigener Goldschmiede.

Vermutlich hätte Gert Gruse die Geschichte und Geschichten des Hauses nie so detailliert erfahren. Doch der Zufall wollte es. "Ein Patient kam eines Tages in unsere Praxis und winkte mit einer alten Zeitung. Er hatte sie beim Abreißen der Tapete in seinem Wohnzimmer entdeckt. Genau auf dieser Seite stand die Annonce meines Urgroßvaters zur Praxiseröffnung." Ein Anlass nachzuforschen. Im Stadtarchiv wurde man fündig. Außerdem stieß eine Leipziger Kollegin, die über Praxen in privater Erbfolge promovierte, auf den Fall aus Köthen. Schließlich entdeckte Gruses Großmutter ein besonderes Schriftstück: Die Urkunde aus Anlass des 50-jährigen Betriebsjubiläums der Zahnarztpraxis fand im umgebauten Wartezimmer einen würdigen Platz.

Erst nach der Wende gelang es Gert Gruse, der nach dem Studium in der Poliklinik, der Jugendzahnklinik und viele Jahre im Landesambulatorium Gröbzig als Zahnarzt arbeitete, die Praxis in vierter Generation zu übernehmen. Zuvor fehlte die Genehmigung des Kreisarztes, sich frei niederzulassen. "Als mein Vater starb, war ich gerade im Physikum", erzählt er. Die Praxis hätte nur dann in privater Erbfolge bleiben dürfen, wäre ein nahtloser Übergang erfolgt. So ging sie in den Staatsdienst über. "Wir waren damals 26 Absolventen", erinnert er sich. Nur einer sei direkt in die Praxis der Eltern eingestiegen. "Wir anderen mussten kämpfen, dorthin zu kommen, wohin wir wollten." Zahnärzte seien überall gebraucht worden. Auch in Köthen.

In diesem Jahr wird Gert Gruse 62. Ein paar Jahre möchte er seine Patienten noch betreuen, "solange es mir gesundheitlich gut geht auf jeden Fall". Was danach aus der Praxis wird, ist offen. Gruses Tochter ist erst acht. "Aber natürlich möchte sie Zahnärztin werden."