Weihnachten in Familie Weihnachten in Familie: Schuhmacher-Dynastie Wiese aus Jessen

Jessen - Am 18. April 2007, morgens gegen 8 Uhr, verstarb Hermann Wiese, kurz nach seinem 70. Geburtstag im Krankenhaus in Flensburg an Herzversagen. Er war die fünfte Generation und das letzte Glied in der Kette einer Jessener Familie. Und so begann es: Im Jahr 1820 kam auf der „Walz“ der 19-jährige Schuhmachergeselle Johann Heinrich Melchior Klusmann nach Jessen.
Hat ihm nun die Stadt gefallen oder ein hübsches Mädchen? Am 13. April 1828 heirateten jedenfalls der inzwischen Meister gewordene die Tochter des Seilermeisters Johann Gottlieb Fromm, Johanna Christiane.
Mit dem Karren zur Messe
Aus dieser Ehe entspross 1838 ein Sohn namens Johann Heinrich. Er heiratete im Mai 1865 Johanne Karoline Schütze aus Langenlipsdorf. Und von diesem - Hermann Wieses und meinem Urgroßvater - ist verbürgt, dass er im Frühjahr und im Herbst als junger Schuhmacher mit der hölzernen, eisenbeschlagenen Kumtkarre, vollgepackt mit Schuhen und Stiefeln aus eigener Werkstatt, zu Fuß nach Leipzig zur Messe geschoben ist.
Dort konnte er seine Erzeugnisse günstiger als zu Hause verkaufen. Ein aus damaliger Zeit unscharfes Foto zeigt ihn zudem als Teilnehmer entweder des deutsch-dänischen Krieges von 1864 oder des preußisch-österreichischen Krieges von 1866.
Kleiner Einschub
Eine kleine Geschichte am Rande: Eine Tochter von ihm hat einen Herrn Lorenz geheiratet. Der besaß Haus und Grundstück in der damals noch namenlosen Lorenzstraße. Als die Rote Schule gebaut werden sollte, hat ihm die Stadt Jessen Haus und Grundstück abgekauft, um genau dort die Toiletten für Schüler und Lehrer zu bauen. Herr Lorenz ist mit seiner jungen Frau daraufhin nach Berlin verzogen.
Die Familiengeschichte schweigt darüber, ob er nun nicht jeden Tag mit ansehen wollte, wie alle Kinder und ihre Lehrer jetzt ihre Notdurft auf seinem Grundstück verrichten würden oder ob ihm sein berufliches Fortkommen in Berlin näher lag. Auch darüber, ob er bei den Kaufverhandlungen mit der Stadt die Bedingung gestellt hat, dass sein Name als Straßenname weiterlebt oder ob die Stadt Jessen ihm durch die Namensgebung ein Denkmal setzen wollte, ist nichts belegt.
Zur Hochzeit das Geschäft
Die Familiengeschichte wird vom Sohn beider Eheleute, Wilhelm Karl Klusmann fortgesetzt, der im Jahr 1901 sowohl seine Meisterprüfung ablegt, als auch unsere Großmutter Auguste Martha Walter heiratet. Sein 63-jähriger Vater übergibt ihm aus diesem Anlass Grundstück, Werkstatt und Geschäft auf dem Kirchplatz Nummer 3. Zwischen 1902 und 1907 werden den beiden vier Mädchen geboren.
Wenn ich mir heute das Haus Kirchplatz Nr. 3 ansehe, frage ich mich, wie haben die Leute das damals bloß gemacht? Zum Kirchplatz hin war das Geschäft. Nach hinten raus die Werkstatt. Im Hause lebten bis 1906, als unser Urgroßvater starb, die Urgroßeltern, die Großeltern, bis 1906 schon drei Kinder, und die auswärtigen Lehrlinge und Gesellen.
Weil das Schuhmacherhandwerk zwar damals seinen Herrn ernährte, die Hausgenossen aber auch leben wollten, hatte die Familie eine Wiese in der Kuhlache, ein Ackerstück in der Starsiedel, eines auf dem Gerbisplan und eins in Braunsdorfs Breite. Das genügte, um eine Kuh, mindestens zwei Schweine, Hühner, Enten und Gänse zu halten und zu füttern.
Auf dem kleinen Hof war der Misthaufen. Daneben das Plumpsklo. Aber auch die Pumpe zur Wasserversorgung. Was müssen die Menschen widerstandsfähig gewesen sein! Denn rings um die Kirche wurden jahrhundertelang Menschen beerdigt. Und das Wasser wurde aus etwa fünf Meter Tiefe gefördert. Unsere Großmutter, die Ehefrau von Karl, wurde 91. Ihre älteste Tochter wurde fast 99 Jahre, ihre jüngste Tochter 92 und meine Mutter 88 Jahre alt. Lediglich die zweite Tochter machte eine Ausnahme. Sie lebte nur 49 Jahre. Aber das hatte andere Ursachen.
Die dritte Generation
Kehren wir zurück zur Übernahme von Grundstück und Geschäft durch Karl Klusmann, dem dritten Schuhmachermeister in Folge im Jahr 1901. Der hatte nun eine erhebliche Last zu schultern. Er musste seine beiden Schwestern und den Bruder auszahlen; seinen Eltern den Auszug gewähren; die gesamte Familie einschließlich der Hausgenossen ernähren; den vier Mädchen eine angemessene Aussteuer und die Hochzeiten bezahlen.
Und er konnte Ende 1928 an den Vorbesitzer des Grundstücks Lange Straße 22, Herrn Schlossermeister Max Hering, 14.500 Goldmark bezahlen. Dafür musste er allerdings die Wiese in der Kuhlache und den Acker in der Starsiedel verkaufen. Damit das alles reibungslos vonstatten ging, war demnach strengste Sparsamkeit angesagt.
So hat mir unsere Oma, also seine Witwe, nicht nur einmal erzählt, dass er, die reparierten Schuhe und Stiefel im Rucksack oder im Sack auf dem Gepäckträger des Fahrrades, mit dampfender Zigarre losgeradelt ist.
Spätestens am Schützenhaus bzw. an Steinhardts Mühle, wenn die Tour Richtung Rehain/Ruhlsdorf ging, wurde die ausgemacht und an gleicher Stelle wieder angesteckt, wenn er auf der Rücktour wieder dort vorbeikam. Und dann hatte er wieder Rucksack und Sack voll von zu reparierendem Schuhwerk.
Aber er muss auch betriebswirtschaftlich was drauf gehabt haben. Meine Mutter erzählte mir öfter, dass sie, wenn sie als Schulkind mit einer Rechenaufgabe nicht klarkam, von ihm immer Hilfe hatte. Und dass sie ihre Fertig- und Schnelligkeit im Kopfrechnen von ihm geerbt hat.
Besonderes Können
Im April 1935 heiratete seine zweite Tochter Marthe den Orthopädie-Schuhmachermeister Hermann Wiese aus Astfeld bei Goslar. Den beiden übergab unser Großvater mit Jahresbeginn 1936 Werkstatt und Geschäft. Er hat aber noch, ähnlich wie sein Vater bei ihm, stundenweise in der Werkstatt seines Schwiegersohnes mitgearbeitet.
Hermann Wiese, wir müssen jetzt sen. hinzufügen, denn im März 1937 wird Hermann Wiese jun. geboren, wurde während des Krieges, nach seiner Grundausbildung „UK“ - unabkömmlich - gestellt. Er war in unserer Gegend der einzige Orthopädie-Schuhmacher und sehr aktiv bei der freiwilligen Feuerwehr. Sehr schnell nach Kriegsende fanden unsere „Freunde“ heraus, dass von ihm gefertigte Stiefel einwandfrei saßen und passten.
Sie brachten das Leder mit, das „Know-how “ hatte Meister Wiese. Dass bei der Gelegenheit auch einiges Nahrhafte mit abfiel, war in dieser schlechten Zeit eine angenehme Begleiterscheinung.
In den Fängen der GPU
Diese „Geschäftsbeziehungen“ zu den Chargen der Sowjetarmee bewahrten ihn aber nicht davor, im Dezember 1949 von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet zu werden. Ein mehr als linientreuer Genosse der Sozialistischen Einheitspartei aus Jessen-Süd hatte ihn in der Kommandantur denunziert. Er sollte angeblich als Volkssturmmann, kurz vor Kriegsende, einen oder mehrere polnische Kriegsgefangene erschossen haben.
Der Prozess wurde ausschließlich von sowjetischer Seite geführt. Einen Verteidiger gab es nicht. Die Verhöre und die Verhandlung wurden ihm nur sehr unvollkommen verdolmetscht. Er bekam lediglich mit, was ihm vorgeworfen wurde und dass er „lebenslänglich“ bekam. Das Ganze spielte sich in einem Trakt des Zuchthauses Bautzen ab. Meine Tante und die Familie wussten monatelang nichts von seinem Verbleib.
Im Mai 1956 wurde er ohne Angabe von Gründen entlassen. Seine Frau war 1953 verstorben. Im Herbst 1951 hatte sein Sohn Hermann jun. die Schuhmacherlehre bei Meister Erhard Donath in der väterlichen Werkstatt aufgenommen, die er drei Jahre später mit der Gehilfenprüfung abschloss. Sehr bald danach sah er ein wesentlich besseres Fortkommen für sich in der Heimat seines Vaters.
In Goslar, in der Firma wo auch sein Vater schon gearbeitet hatte, machte er zusätzlich noch Lehre und Prüfung als Orthopädie-Schuhmacher. Damit war er der Fünfte und nun wohl auch Letzte in einer ununterbrochenen Kette von Schuhmachern in einer Jessener Familie. (mz)
