KZ-Todesmärsche KZ-Todesmärsche: Drei Ehrenbuch-Einträge für mutige Jessener

Jessen - „Wir ehren und danken Frau Bayer posthum und ihrer Tochter Gertrud, dass sie den jungen KZ-Häftling, der sich in ihrem Gartenhäuschen versteckt hatte, verpflegten und ihn nicht verraten haben. Posthum ehren und danken wir Herrn Otto Köppe, dass er den KZ-Häftling, der sich auf seiner Trockentoilette versteckt hatte, nicht verraten hat, sondern ihm ein anderes Versteck zugewiesen und ihn verpflegt hat. Wir ehren und danken Herrn Rolf Koch und seinem Bruder, dass sie einen Häftling vor dem Suizid bewahrten.“
Ellen Fauser aus Halberstadt, Vorsitzende der Interessengemeinschaft (IG) Todesmärsche, verliest diesen jüngsten Eintrag ins Ehrenbuch für Zivilcourage der IG am Freitag im Ratssaal des Jessener Schlosses. Gemeinsam mit Hans Richter aus Wernigerode, der ebenfalls zu den Aktivisten der IG zählt und der die Idee des besagten Ehrenbuchs maßgeblich befördert hat, ist sie in die Elsterstadt gekommen.
Ihr Anliegen: Mit dem Eintrag sollen Menschen aus Jessen gewürdigt werden, die am Ende des Zweiten Weltkriegs KZ-Häftlingen der Todesmärsche durch die Region geholfen haben. Dem feierlichen Akt wohnt ein Grüppchen von 15 Leuten bei, darunter auch Jessens Bürgermeister Michael Jahn (SPD). Sie alle beurkunden den Ehrenbuch-Eintrag mit ihren Unterschriften.
Zwei Schienen
Den Ausgangspunkt für diese Initiative datiert Hans Richter auf den Beginn seines diesbezüglichen ehrenamtlichen Engagements und damit ins Jahr 2009 zurück. Mit dem Anlegen des Ehrenbuchs der IG aus dem Harz, die sich zu allererst der Aufarbeitung des Todesmarsches aus Langenstein-Zwieberge, Außenlager des KZ Buchenwald, verschrieben hat, wurde 2015 begonnen.
Otto Köppe wohnte mit seiner Familie in der Arnsdorfer Reihe von Jessen, ziemlich am Waldrand. In der zweiten April-Hälfte 1945 hatte sich ein KZ-Häftling in der auf seinem Grundstück befindlichen Trockentoilette versteckt. Otto Köppe bemerkte ihn früh am Morgen, als er selbst zur Toilette musste. Er brachte ihm Essen und Trinken. Im Laufe des Tages lief der Häftling weiter. Es ist nicht bekannt, wohin er ging und ob seine Flucht gelang.
Zu den Beweggründen dafür erklärt Ellen Fauser: „Reaktionen der Bevölkerung entlang der Todesmarsch-Strecke fanden sich kaum in den Dokumenten der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge.“ So setzte die IG nach dem Ausscheiden von Ellen Fauser als Gedenkstättenleiterin die Recherche- und Erinnerungsarbeit dazu ehrenamtlich fort. Hans Richter wiederum nennt zwei Schienen des Wirkens der IG - das Führen des Ehrenbuchs mit den dazugehörigen Nachforschungen und das Organisieren von Exkursionen auf den Spuren der Todesmärsche, beides um letzte Zeitzeugen-Berichte zusammenzutragen und für die Zukunft zu sichern.
Zu den Ereignissen, die Jahrzehnte zurückliegen, an die zu erinnern, aber trotzdem wichtig sei, wie Michael Jahn am Freitag betont, gehören auch die Geschichten von Mutter Bayer und ihrer Tochter Gertrud sowie von Rolf Koch. Letzterer ist nun mit folgenden Erinnerungen im Ehrenbuch verewigt: „Es war nun schon zwei Tage Frieden und so wagten wir es, aus dem Haus zu gehen... Mein Bruder war zu dieser Zeit bei Bauer Thäle in Richtung Arnsdorf als Landarbeiter tätig. Mein Weg führte mich dorthin... In der Arnsdorfer Straße in Höhe Haus Mikan war eine Panzersperre und ein riesengroßes Loch, in dem viele erschossene Häftlinge lagen. Die Angst um das Leben meines Bruders stieg... Im Kuhstall des Hofes schlug der Hund an... Wir sahen, dass sich etwas bewegte. Es war ein Häftling, der sich vor einigen Tagen dort versteckt hatte. Er hatte sich schon einen Strick um den Hals gelegt, doch mit den Füßen erreichte er den Boden. Wir hoben ihn an und schnitten den Strick durch. Es war ein Pole oder Ukrainer, um die 20 Jahre...“
In der Nacht zum 20. April 1945 vernehmen die Bewohner des Hauses Prettiner (heute Gerbisbacher) Straße 16 Geräusche: ein Zug KZ-Häftlinge. „Die Bewohner von Nr. 16 haben in der ,Kowweliksbreete’ ein kleines Stück Land und einen Feldgarten. Die Kartoffeln müssen in die Erde. Ganz früh geht’s hinaus, denn ab 8 Uhr machen Tiefflieger einen Aufenthalt im Freien fast unmöglich.
Als Mutter Bayer und Gertrud, ihre Älteste, das Waldende erreichen, bietet sich ihnen ein schreckliches Bild: Tote im Straßengraben! Ihnen ist klar: Der Häftlingszug der vergangenen Nacht! Das Gartenhäuschen ist verschlossen. Als die Frauen es öffnen, bietet sich ihnen ein Bild des Jammers.
Auf dem Boden liegt ein völlig entkräfteter, junger Mann in Häftlingskleidung. Ihm ist es gelungen, aus der Kolonne auszubrechen. Er stammelt und fleht: ,Nicht verraten, bitte, bitte! Hunger! Durst!’“
Häftling hat überlebt
„Mutter Bayer geht heim, um etwas zu essen und zu trinken zu holen. Vor dem ersten Tieffliegerangriff erreicht sie wieder den Acker, versorgt den Gefangenen. Tags darauf war der Mann nicht mehr da. Wenige Tage später, die Rote Armee hatte Jessen besetzt, wurden die Überlebenden des Todesmarsches in einem Lager an der alten Stadtmühle einquartiert. Gertrud erkannte im Vorbeifahren den Mann aus der Hütte. ,Unser Kleener is durchjekommen!’, berichtete sie daheim.“ (mz)