Kreis Wittenberg Kreis Wittenberg: Strapazenreiche Flucht in die Elbaue
JESSEN/MZ. - Denn eines verbindet sie bis heute noch immer: Erinnerungen an ihre Heimat. Im Sommer des Jahres 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wurden sie von dort vertrieben, die Region wurde auf Beschluss der Siegermächte den Tschechen zugesprochen.
Bei der jüngsten Zusammenkunft der Sudetendeutschen in ihrem "Stammlokal", dem Jessener "Bergschlösschen", schilderte Susanne Hinze, die in Gorsdorf ein neues Zuhause gefunden hat, der MZ ihre Erlebnisse aus der damaligen, schicksalsschweren Zeit. Für immer haben sich diese Tage und Wochen in das Gedächtnis der 79-Jährigen förmlich eingebrannt. Sie lebte mit ihrer Familie in Tetschen - von 1942 bis 1945 hieß der Ort Tetschen-Bodenbach - dann Decin, am Oberlauf der Elbe. "Am 24. Juni 1945 war es, da klopften Tschechen an die Tür, brüllten nur ,Raus!'. Es blieb nur wenig Zeit, wenigstens das Notwendigste zu fassen. Dann ging es auf die Flucht, keiner wusste, wohin", schildert Susanne Hinze ihre Erlebnisse. Zu Fuß ging es bis Herrnskretzschen, dem heutigen Hrensko, ein ehemaliger Grenzübergang zur DDR und später der Bundesrepublik. Bis nach dem EU-Beitritt der Tschechischen Republik (Tschechien) am 1. Mai 2004 schließlich die Grenz- und Zollkontrollen wegfielen. "Tausende, Menschen über Menschen, teilten das Schicksal meiner Familie", erinnert sich Susanne Hinze. Sie, damals ein 13 Jahre junges Mädchen, musste laufen. Auf dem Handwagen, gezogen von ihrem Vater, saßen ihre damals 79-jährige Oma sowie ihre zehn Monate junge Schwester. Zwischen den wenigen Habseligkeiten und wichtigsten Unterlagen, die sie buchstäblich in letzter Minute greifen konnten, bevor es auf Flucht ging. Schmilka war die nächste Station. In einem Gasthof bezogen dort Vertriebene auf engstem Raum Station. Am nächsten Tag weiter zu Fuß bis Pirna. Ein Frachtdampfer brachte unzählige Menschen auf der Elbe bis Dresden. "Der Anblick der Stadt war grauenhaft, alles war zerbombt. Die wenigen Menschen, denen wir begegneten, waren hoffnungslos, ihre Blicke sagten alles." Weiter ging es auf einem Frachtdampfer bis Riesa. Männer, die mit im Tross waren, versuchten wenigstens ein wenig Ordnung in die schier aussichtslose Lage zu bringen. Sie erkoren Röderau als nächstes Ziel, wieder per pedes. In dem Ort wurden sie auf Viehwaggons verladen, die Bahn brachte sie bis Falkenberg. Am zerbombten Bahnhof stiegen alle aus, fanden in einer Schule wenigstens ein Dach über dem Kopf. Übernachtet wurde auf Stroh. "Dann sagte mein Vater: Wozu ist die Straße da, zum Marschieren", weiß Susanne Hinze noch wie heute. Borken war die nächste Station. Alle meldeten sich beim Bürgermeister. Der gab den Flüchtlingen den Rat: "Marschiert weiter bis Schweinitz."
In Baracken eines Lagers vom ehemaligen Reichsarbeitsdienst fanden sie Unterschlupf. "Nicht gerade komfortabel. Aber immerhin konnten sich alle nach mehr als drei Wochen endlich wieder einmal gründlich waschen", denkt Susanne Hinze zurück. Das ehemalige Gut Schillbach am Jessener Gorrenberg war die nächste Etappe. Dort erlebten die Flüchtlinge ein fürchterliches Gewitter. Dann wieder ein Barackenlager, diesmal in Jessen, neben der ehemaligen Molkerei neben dem Bahnübergang der B 187. Heute befinden sich dort Einkaufsmärkte. Der Vater und andere Männer liefen weiter, bis Hemsendorf. Der Ort war hoffnungslos überfüllt mit ehemaligen Schlesiern. Die waren noch vor den Sudeten aus dem heutigen Polen vertrieben worden.
Im Nachbardorf Gorsdorf war etwas mehr Platz. So fand die Familie Hinze hier eine neue Ersatzheimat. Drei Kinder gingen aus der Ehe von Susanne Hinze mit ihrem Mann hervor. Stolz ist sie auf ihre sechs Enkelkinder. Kathleen hat es nach Australien verschlagen. Und im Juni dieses Jahres wurde Urenkelin Pia geboren. Susanne Hinze gefällt es in der neuen Heimat. Obwohl sie wie alle Landsleute tiefe Wehmut mit der alten Heimat verbindet. Deshalb auch die Treffen und spontane Kontakte auf privater Ebene.
Franz Schöbel, der die Gruppe der Sudetendeutschen betreut, begrüßte Susanne Hinze beim jüngsten Kaffeenachmittag mit einem Blumenstrauß. "Schön, dass Du wieder da bist", freute nicht nur er sich. Denn krankheitsbedingt konnte die Gorsdorferin eine Zeit lang nicht teilnehmen.
Jetzt freuen sich alle schon auf die gemeinsame Weihnachtsfeier. Sie findet am 4. Dezember im "Bergschlösschen" statt.