Jugendamt im Kreis Wittenberg ist alarmiert Jugendamt im Kreis Wittenberg ist alarmiert: Familien stehen unter Druck

Jessen - Kontaktsperren, Ausgangsbeschränkungen, geschlossene Kindertagesstätten und Schulen, Heimarbeit. All das stellt Familien gerade vor besonders große Herausforderungen.
Das alltägliche Leben hat sich mit den Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus enorm verändert. Geregelte Tagesabläufe, der Kontakt zu anderem Personen und das Ausleben der Hobbys im sind kaum oder gar nicht möglich.
Arbeiten im Krisenmodus
Diese Situation setzt auch das Jugendamt in erhöhte Alarmbereitschaft: „Wir arbeiten im Krisenmodus“, sagt Ute Helmchen, die Leiterin des Fachdienstes Jugend und Bildung im Landkreis Wittenberg.
„Wir sehen auf jeden Fall erhöhte Risikofaktoren in den Familien, weil die Familien viel enger und länger miteinander zu tun haben“, erklärt Michelle Heinze, die Leiterin der Kinderschutzfachstelle im Kreis Wittenberg. Gerade Eltern, die eine eingeschränkte Erziehungsfähigkeit haben, so sagt sie, kommen jetzt schnell an ihre Grenzen.
Aufgrund mangelnder Handlungskompetenzen einiger Eltern sieht sie hier verstärkt die Gefahr, dass Kinder angeschrien werden oder körperliche Übergriffe stattfinden.
Denn in der Zeit, wo die Kinder sonst in den Kitas und Schulen untergebracht waren, hatten auch die Eltern Zeit für sich und ihre Aufgaben.
Die Kinder müssen und wollen nun aber zu Hause beschäftigt werden, der Bewegungsdrang muss kompensiert werden. Hinzu kommt das häusliche Unterrichten.
Und im Extremfall werden nun partnerschaftliche Konflikte aufgrund der dauerhaften räumlichen Nähe in Anwesenheit der Kinder ausgetragen.
„Das ist eine komplizierte Situation für alle Familien, nicht nur für die, die ohnehin schon von uns betreut werden“, findet Ute Helmchen.
Kinderschutzstelle umorganisiert
Deshalb hat das Wittenberger Jugendamt reagiert und eine Umstrukturierung der Kinderschutzstelle vorgenommen. Die Kinderschutzfachstelle wurde von drei auf 20 Mitarbeiter aufgestockt.
Jetzt werden alle Familien, bei denen ein Hilfebedarf besteht, von drei Teams der Kinderschutzfachstelle betreut. Zuvor war diese nur bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung zuständig. Für andere Familien mit Hilfebedarf die Bezirkssozialarbeiter.
Weil aber viele Hilfen aufgrund der Maßnahmen jetzt nicht möglich sind - beispielsweise die Betreuung der Kinder in der Tagesstätte oder regelmäßige Familienberatung -werden jetzt alle Bedarfsfamilien von der Kinderschutzfachstelle betreut.
Wenn notwendig mit regelmäßigen Hausbesuchen, unter Einhaltung der Schutzmaßnahmen, erklärt Heinze. Oft auch bei einem gemeinsamen Spaziergang: „Es ist wichtig, dass wir ein Gefühl davon bekommen, wie der Umgang unter den Familienmitgliedern ist. Da müssen wir nicht immer in die Wohnung gehen.“
Etwa 400 Familien werden so derzeit vom Jugendamt betreut. Ute Helmchen geht davon aus, dass diese Zahl weiter steigen wird, je länger die Maßnahmen zur Eindämmung andauern müssen.
Denn, wie bereits erklärt, ist die Isolation auch eine Stresssituation für Familien, die bisher keine Hilfe brauchten. Oft fehlen die Großeltern als Bezugspersonen der Kinder oder Unterstützer der Eltern, da sie meist der Risikogruppe angehören.
Den Alltag strukturieren
Hier hat Michelle Heinze einige Tipps, um den Alltag bestmöglich zu bewältigen:
„Ich rate den Familien zu versuchen, eine Alttagsstruktur aufrechtzuerhalten. Das kann so aussehen, dass man täglich zu einer bestimmten Zeit aufsteht, das Frühstück jeden Tag gleich gestaltet und die Aufgaben des Tages gemeinsam bespricht. So, dass jedes Kind, abhängig vom Alter, weiß, was als nächstes passiert. Dazu gehören feste Hausaufgaben- und Spielzeiten.“
Feste Tagesabläufe bieten einen Rahmen für das Familienleben und eine Art von Normalität, erklärt sie. In der Kita, der Schule oder auf Arbeit gebe es schließlich auch solche Strukturen.
Letztendlich könne dies auch immerwährende Diskussionen mit den Kindern vermeiden. „Das hat auch was mit Regeln und Grenzen zu tun.“
Hilfestellungen und Tipps bietet hierbei die Erziehungsberatungsstelle des Diakonischen Werkes im Kirchenkreis Wittenberg auf ihrer Homepage, informiert Heinze.
Dort können Familien auch telefonisch um Ratschläge bitten. Alternativ oder wenn jemand meint, die Situation nicht mehr alleine bewältigen zu können, erklärt Ute Helmchen, kann er sich auch direkt telefonisch an das Jugendamt, also die Hotline der Sozialarbeit wenden.
Beim Verdacht einer Kindeswohlgefährdung oder für Kinder und Jugendliche, die sich selbst gefährdet sehen, ist auch weiterhin die Kinderschutznotrufnummer rund um die Uhr erreichbar.
Unterstützung für Jugendamt
Weil viele Einrichtungen geschlossen sind, brechen auch für die Mitarbeiter im Kinderschutz wichtige Netzwerke weg. Um den erhöhten Hilfebedarf zu meistern, werden nicht nur Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen des Jugendamtes zum Kinderschutz hinzugezogen, „wir treffen uns auch regelmäßig mit freien Trägern der Jugendhilfe und besprechen die Bedarfe auf beiden Seiten“, erklärt die Fachdienstleiterin des Jugendamtes im Gespräch mit der MZ.
So haben auch die freien Träger, beispielsweise die Autismusambulanz (Internationales Bildungs- und Sozialwerk), angeboten, mit Leistungen über ihre eigentliche Tätigkeit hinaus, das Jugendamt und damit die Familien zu unterstützen.
Ute Helmchen zeigt sich optimistisch: „Inzwischen haben wir in Wittenberg für die Jugendhilfe in Zusammenarbeit mit den freien Trägern ein solides, sehr zuverlässiges System.“
Und die bevorstehenden Osterfeiertage, so hofft sie, werden eine „positive Unterbrechung“ des stressigen Familienalltages bringen.
››Auf der Homepage des Diakonischen Werkes sind Ansprechpartner aufgelistet und Tipps, wie Sie die Corona-Krise als Familie überstehen: beratungsstelle-wittenberg.de
››Die Hotline der Sozialarbeit ist Montag bis Freitag täglich zwischen 9 und 16 Uhr erreichbar: 03491/47 94 94
››Die Kinderschutznotrufnummer ist rund um die Uhr erreichbar: 03491/47 94 83
(mz)
