Gewerbe Jubiläumsjahr für Haushaltswaren von Baier in Jessen
Baier Haushaltwaren feiert Pfingsten 30. Geburtstag. Was am Heiligen Abend noch auf dem Programm steht und warum ein Fahrrad verschwunden ist.

Jessen/MZ
- Das Herrenfahrrad ist nie wieder aufgetaucht. Doch: Der Trick hat funktioniert. Bei einer Tanzveranstaltung 1981 hat sich Helmut Baier Gedanken gemacht, wie er seine Kollegin Karola nach Hause bringen kann - ohne Drahtesel. Mit zu viel Schmetterlingen im Bauch habe er schlichtweg vergessen, wem er das Fahrrad anvertraut hat. Der Funken ist an diesem Abend jedenfalls übergesprungen. Vier Jahre später heiraten Helmut und Karola Baier, auch beruflich bilden sie ein gutes Duo.
Der heute 77-Jährige hat bis zur Wende als Chef der Jessener HO Haushaltswaren den Hut aufgehabt, seine Frau mit „vier weiteren Vollkräften“ den Laden mit geschmissen. Das Ehepaar erzählt von Tausch- und Bückwaren, den zu DDR-Zeiten begehrten Dingen, Elektroartikel, Gläser oder Porzellan sowie Kunden, die nach langer Produkt-Jagd glücklich aus der HO gegangen sind. „Die Preise kenne ich heute noch auswendig“, betont der 77-Jährige, der sofort ein paar Zahlen zum Besten gibt.
Vertrag mit Auflagen
Die politische Wende ist aus wirtschaftlicher Sicht der Sprung ins kalte Wasser gewesen. „Wir haben sehr teuer von der Treuhand gekauft“, blicken sie auf eine sehr ereignisreiche Zeit zurück. Der Schuldenberg ist plötzlich sechsstellig, die Auflagen seitens der Treuhand hoch. Die Angestellten, erzählen sie, mussten laut Vertrag für ein weiteres Jahr beschäftigt werden, bei vorzeitiger Entlassung ist eine Abfindung fällig. „Dazu weitere 100.000 Mark an Investitionskosten. Das war schon heftig“, meint Karola Baier, die seit 2006 das Geschäft allein führt.
Trotzdem: Die 1990er Jahre „mit der ganzen Aufbruchstimmung“ bezeichnen sie als die schönste Zeit. Die erste Westlieferung bleibt unvergessen. „Als der Lkw-Fahrer die Heckklappe geöffnet hat, war, wie im Intershop einkaufen gehen“, so die 59-Jährige. „Wir haben ruckzuck etwa 120 Weihnachtsbaumständer verkauft. Und Wäschetrockner wie Sand am Meer“, ergänzt ihr Mann, Gläser und Porzellan gehen ebenfalls wie geschnitten Brot. „Das waren richtig fette Jahre“, sagen sie, in dieser Zeit haben sie vorausschauend Rücklagen gebildet. Mit der Jahrtausendwende flaut das Geschäft ab, Baiers nehmen Großgeräte und Lampen aus dem Sortiment, mit zwei Halbtagskräften geht es zunächst weiter.
Sechs Jahre später steht die Chefin ganz allein im Geschäft - bis heute, wochentags neun Stunden. Ihr Mann erzählt, dass er Rente bekommt. „Sonst würde es nicht funktionieren“, gibt er offenherzig zu. Sie haben nie Wert auf Luxus gelegt, nie mehr als zehn Tage am Stück Urlaub gemacht und wie erwähnt in den fetten Jahren Rücklagen gebildet. „Da Urlaub etwas sehr Kostbares ist, wollte ich immer in die Sonne“, so die 59-Jährige, die von Reisen nach Spanien, Italien und der Türkei erzählt. „Die Schiffsreise in die Karibik zu unserer Silberhochzeit war die Allerschönste.“
Durchhalten ist Pflicht
Zu Pfingsten steht ein Jubiläum auf dem Programm. Baiers Haushaltwaren am Jessener Hospitalplatz feiert 30.?Geburtstag. Das Ehepaar ist stolz, trotz aller wirtschaftlichen Höhen und Tiefen so lange durchgehalten zu haben. Lediglich während der ersten Corona-Welle habe es Überlegungen gegeben, das Geschäft für immer zu schließen. „Es sind 200 Quadratmeter Ladenfläche und höchstens drei bis vier Kunden gleichzeitig im Geschäft. Wer soll sich hier anstecken?“, fragt Karola Baier und verweist auf Trennscheibe im Kassenbereich und Desinfektionsmittel.
Ich werde durchhalten, meint sie kämpferisch, egal, wie viele Wellen noch kommen. Sie macht sich eher Sorgen um ihre zwei Kinder und fünf Enkelkinder, die ihre Immunisierung gegen Covid-19 erst nach Aufhebung der Priorisierung erhalten. Die 59-Jährige wünscht sich einen „besseren Informationsfluss“ seitens der Politik und hofft, dass Corona zumindest vor Weihnachten Geschichte ist. Denn am Heiligen Abend steht mit dem 60. Geburtstag das nächste Jubiläum auf dem Plan.
Was hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Zu DDR-Zeiten, sagen sie, sei das Verhältnis zwischen Anbieter und Kunden freundschaftlicher gewesen. In der Mangelwirtschaft habe schließlich jeder jeden gebraucht. Seit die Online-Märkte das Internet erobert haben, reguliert sich vieles über den Preis. Fest steht: „Ohne unsere treue Kundschaft hätten wir die 30 Jahre nicht durchgehalten. Schon gar nicht die Corona-Zeit.“ Etwas ist immer geblieben. Baiers erzählen, dass ihr HO-Geschäft zu DDR-Zeiten „Scherbelladen“ genannt wurde, im Jessener Volksmund heißt es noch heute so. Der Multiboy, ein Lebensmittel-Zerkleinerer aus dem Elbtalwerk Heidenau, funktioniert weiter einwandfrei - und erst der Campinggrill. Der ist selbst nach 40?Jahren Einsatz nicht kleinzukriegen.

