Awo-Familienhilfe in Jessen Awo-Familienhilfe in Jessen: "Wir kommen manchmal an die Grenze des Leistbaren"

Jessen/Holzdorf - Kräuterschnuppern mit den Ferienkindern der Familienhilfe, Blumen und Geschenke, Babys aus der Krabbelgruppe knuddeln. Entspannt beginnt der Besuch von Sozialministerin Petra Grimm-Benne (SPD) bei der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Jessen. Mit dabei sind der Awo-Kreisvorsitzende Erhard Hellwig-Kühn und Geschäftsführerin Corinna Reinecke sowie der SPD-Bundestagskandidat für den Wahlkreis Wittenberg-Dessau, Stefan Maria Stader.
Sie freue sich, wieder einmal bei ihrem „alten Verein“ zu sein, sagt die ehemalige Awo-Landesvorsitzende nach der herzlichen Begrüßung. Sie sei aber nicht gekommen, sich feiern zu lassen, sondern zu hören, was die Mitarbeiter der Awo in Jessen bewegt. Und da wird es sehr ernst.
Sylke Bär, eine von sieben Mitarbeiterinnen, die im Rahmen der Hilfen zur Erziehung im gesamten Altkreis Jessen 39 Familien mit insgesamt 66 Kindern betreuen, berichtet, dass sich die Probleme verschärfen. Sie erzählt von einer wachsenden Zahl von „Drogenmuttis“; von Verwahrlosung, so dass Krätze, Flöhe und Streptokokken leichtes Spiel haben; von Kindern, die hungern, weil keiner ihnen Mahlzeiten bereitet; von Eltern, die aufgrund von Behinderungen mit einem Kind schon hoffnungslos überfordert waren, und doch noch eins oder gar zwei dazu bekommen; von Müttern, die ihre Kinder schon mehrfach misshandelt haben.
„Wir kommen manchmal an die Grenze des Leistbaren, wo wir uns schon fragen, ob es nicht besser wäre, wenn man die Kinder aus den Familien nehmen würde“, so Sylke Bär. Auch würden es mehr Fälle: Habe früher eine Mitarbeiterin in einer 40-Stunden-Woche sechs Familien betreut, seien es jetzt zehn. „Wir hetzen von A nach B, um unsere Kontaktzeiten einzuhalten“.
Da tut es gut zu hören, dass das Land ab dem zweiten Halbjahr die Pauschalen für den Einsatz von Sozialpädagogen erhöht. Die Ministerin macht Mut, indem sie sich anerkennend äußert über das, was Anne Ermlich und Steffi Fromm in der Schwangerenberatung an vorbeugender Arbeit leisten. „Sie sind die Türöffner für die Familien, die Hilfe brauchen, Sie ebnen ihnen den Weg zu den Angeboten“, sagt sie.
Petra Grimm-Benne: Anspruch auf Ganztagsplatz für alle Kinder
Vor dem Hintergrund dessen verteidigt Grimm-Benne am Nachmittag in der Kindertagesstätte „Am Wald“ in Holzdorf - einer Einrichtung der Awo - den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz uneingeschränkt für alle Kinder. Weil sich mit dem damit verbundenen Personalbedarf die Kosten für die Städte erhöhen, erst recht wenn man die Eltern nicht über Gebühr belasten will, hatte Bürgermeister Michael Jahn (SPD) seine Auffassung geäußert, dass für Kinder von Arbeitslosen eine Halbtagsbetreuung reiche.
Die Kita ist vor fünf Jahren von der Stadt gebaut worden, hat eine Kapazität von 50 Plätzen, ist aber dank Sondergenehmigung mit 54 Kindern belegt. Andererseits gebe es in Holzdorf-Ost 27 Flüchtlingskinder, denen Kita-Betreuung zustünde. Verantwortlich ist der Kreis, der sich dazu mit der Stadt in Verbindung gesetzt hat.
Im Interesse kurzer Wege und, wie Jahn sagt, einer „durchgängigen Schiene der Integration bis in die Grundschule Schweinitz“ gibt es die Erwägung, alle Kinder in Holzdorf unterzubringen. Statt eines teuren und langwierigen Anbaus sollte die Erweiterung dann durch Container erfolgen, zumal niemand wisse, was die Zukunft bringt. Entschieden sei noch nichts.
„Da müssen wir als Träger einbezogen werden - und wir werden sie damit nicht alleine lassen“, versichert Erhard Hellwig-Kühn gegenüber Leiterin Ramona Hasse. Auch mit den Eltern werde darüber gesprochen. Der Jessener Bürgermeister will seine Einwilligung davon abhängig machen, dass die Mehrkosten weder zu Lasten der Stadt noch der Eltern gehen. (mz)
