Zachow Stadtteilserie 10 Zachow Stadtteilserie 10: Böllberg - Wörmlitz

Halle (Saale)/MZ. - Es ist mitten im klirrend kalten Februar, wir stehen am futuristischen Pylon der im Jahr 2000 eingeweihten Rabeninselbrücke und sehen: Die Saale ist komplett zugefroren. Dieses scheinbar banale Szenario wäre noch vor einem Vierteljahrhundert, als die Einleitungen der vorgelagerten Großbetriebe Buna und Leuna aus dem Saale-Wasser eine Chemie- Brühe allerhöchsten Grades gemacht hatten, völlig undenkbar gewesen. Die vereiste Saale illustriert anschaulich die gewaltige Veränderung, die der vom Fluss begrenzte Stadtteil Böllberg-Wörmlitz in der jüngeren Vergangenheit erfahren hat. „Dass die Saale wieder sauber ist, stellt wirklich einen unwahrscheinlichen Gewinn dar”, findet die Böllbergerin Christina Seidel, die seit einiger Zeit für ihren Freundeskreis sogar ein alljährliches Badefest veranstaltet. „Noch vor gut zwanzig Jahren wäre doch kein Mensch auf die Idee gekommen, in der Saale zu schwimmen”, pflichtet ihr Andrea Kubale bei, die in Wörmlitz auf einem einstigen Rittergut eine Pension betreibt und voller Überzeugung sagt: „Bei uns ist es mindestens genauso schön wie in Kröllwitz, nur ruhiger.”
Mehl vom weißen Ufer
Von Anfang an war das Schicksal von Böllberg- Wörmlitz eng mit dem Flusslauf verknüpft. Etwa im 8. Jahrhundert siedelten slawische Fischer am „weißen Ufer”, wörtlich „bel brej“ – eine Bezeichnung, aus der später Beleberch und schließlich Böllberg wurde. Viele Jahrhunderte waren hier hauptsächlich Fischer und Schiffsleute zu Hause – und Müller, denn bereits im 10./11. Jahrhundert hatte sich an der Saale auch ein Flussmühlenbetrieb etabliert. Dieser wurde durch den Bau der imposanten Hildebrandschen Mühlenwerke um 1875/80 endgültig ins Industriezeitalter überführt. Mit 32 französischen Mahlgängen und einer Tagesproduktion von 110 Tonnen sicherte die Böllberger Mühle bis zu ihrer Schließung 1975 die Mehlversorgung von ganz Halle. Tragisch: Nach der Wende, Anfang der 90er Jahre, also just zu jener Zeit, als man über neue Nutzungsmöglichkeiten für dieses Kleinod der Industriearchitektur nachzudenken begann, verfiel das weithin sichtbare Wahrzeichen von Böllberg infolge mehrerer Großbrände vollends zur Ruine.
Doch inzwischen keimt Hoffnung: Karl-Josef Thiemeyer hat den Gebäudekomplex gekauft und geht nun Schritt für Schritt vor: „Zunächst wollen wir die sechs sämtlich noch vorhandenen und hochwertigen Voith-Turbinen wieder in Gang setzen und mit unserem Wasserkraftwerk jedes Jahr zwei Millionen Kilowattstunden Ökostrom erzeugen.” Mit dem Geld, das der Landwirt aus Westfalen damit verdient, will er nach und nach den gesamten Gebäudekomplex wieder aufbauen, Werkstätten, Büros, Loftwohnungen, Freizeitmöglichkeiten unterbringen. Eile mit Weile: „Ich schätze, da werden meine Kinder noch zu tun haben”, sagt der 53-Jährige lachend.
Apropos Kinder: In Wörmlitz, zwischen dörflichem Siedlungskern und Röpziger Brücke, findet sich eines der größten halleschen Neubau-Gebiete der vergangenen 20 Jahre. In die schmucken, wie an Perlenschnüren aufgezogenen Eigenheime sind vor allem junge Familien mit Kindern eingezogen. Auf dem Gelände einer früheren Wehrmachts-Kaserne, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetarmee genutzt und im Zuge der Wende komplett abgetragen wurde, stehen heute die Vier- und Fünfgeschosser des 1994/95 errichteten Wohnparks „Saaleblick” – dessen Name angesichts der spektakulären Aussicht in die Auenlandschaft wortwörtlich zu nehmen ist. Straßennamen wie Rostocker Weg, Wismarer Weg oder Bremer Straße verstärken die beinahe maritime Anmutung.
Zurück im Wörmlitzer Urdorf, gehen wir den Aktivitäten der ortsansässigen Kirchengemeinde auf die Spur. „Es ist eine Sehnsucht zu spüren, gemeinschaftliche Aktivitäten wieder aufleben zu lassen“, sagt Pfarrer Dirk Lehner. In einer Zeit, wo althergebrachte Institutionen wie etwa Feuerwehr oder eigene Bürgermeisterei (Wörmlitz und Böllberg wurden 1950 nach Halle eingemeindet) nicht mehr vorhanden seien, begreife sich die Kirchengemeinde als „Katalysator” auch des weltlichen Dorflebens. Im Gemeindezentrum, einer noch zu DDR-Zeiten mit Schweizer Hilfsgeldern ausgebauten ehemaligen Scheune, gibt es beispielweise Bildungsprogramme für Senioren, Bastelgruppen und alljährlich ein großes Sommer- sowie Adventsfest. Als besonders reizvoll empfindet es Lehner, das in seinem Zuständigkeitsbereich gleich zwei „Prachtexemplare” traditioneller Dorfkirchen stehen, in denen alternierend die Gottesdienste abgehalten werden: St. Nikolaus in Böllberg, mit mehr als 800 Jahren die älteste Kirche Halles, deren geplanter Abriss beim Ausbau des Böllberger Weges Mitte der 70er Jahre gerade noch so verhindert werden konnte, und St. Petrus in Wörmlitz, die seit 2009 übrigens als „Radfahrerkirche” firmiert. „Wer hier Halt macht, findet einen Ort, wo er nicht bedrängt wird, nichts kaufen muss, wo er einfach nur sein kann”, sagt Lehner.
Böllberg-Wörmlitzer „Nachbarschaftshilfe”
„Einfach nur sein” kann man auch prima auf der Rabeninsel. Der 41 Hektar große, unter Naturschutz stehende Werder zwischen wilder und schiff barer Saale zieht Ausflügler, Jogger und jetzt bei Schnee sogar Skilangläufer an. Ohnehin profitieren Böllberg und Wörmlitz tüchtig vom wieder auflebenden Wassertourismus sowie dem Saale-Radweg. „Bei uns werden nicht nur Olympiasieger wie Thomas Lange oder Andreas Hajek gemacht, sondern bekommt man auch eine Hotelunterkunft und Vollverpflegung in idyllischer Lage”, sagt Geschäftsführer Günter Heinrich vom Ruderhaus Böllberg. Und wenn der Andrang mitunter gar zu groß wird, hilft seine Wörmlitzer Branchenkollegin Andrea Kubale mit ihrer Pension „Gutshaus” gern aus – und umgekehrt.
