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Plattenbau in Halle-Neustadt Wohnen im Plattenbau in Halle-Neustadt: "Warum soll ich hier wegziehen?"

Von Gitta Keil 16.08.2016, 04:28
Gabriele Machlitt steht auf der Dachterasse ihres sanierten und umgebauten Plattenbaus im Neubaugebiet Halle-Neustadt
Gabriele Machlitt steht auf der Dachterasse ihres sanierten und umgebauten Plattenbaus im Neubaugebiet Halle-Neustadt dpa-Zentralbild

Halle (Saale) - Wenn Gabriele Machlitt von ihrer Dachterrasse schaut, guckt sie ins Grüne. Große alte Bäume spenden Schatten auf den Rasenflächen. Die toughe Mittsechzigerin wohnt in einer sanierten und umgebauten Plattenwohnung mitten in Halle-Neustadt. Seit 1975 lebt sie in einer neu erbauten Stadt, die vor den Toren von Halle auf die grüne Wiese gesetzt wurde. Damals zog sie mit ihrem Mann in ein Hochhaus in die 10. Etage. „Das war für uns wie ein Fünfer im Lotto. Ich war hochschwanger“, erzählt sie. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, wurde der verwitweten Frau die Wohnung in dem Y-Hochhaus zu groß und zu anonym.

Doch wegziehen aus Halle-Neustadt? Für Machlitt nicht wirklich ein Thema. „Ja, ich hab mir auch Wohnungen in Gründerzeitvierteln angeschaut“, sagt die studierte Betriebswirtin, die seit kurzem im Ruhestand ist. „Hat mir nicht so gefallen - dunkler Hinterhof, vorne die Straßenbahn und teuer außerdem.“

Nur wenige Straßen von ihrer bisherigen Wohnung wurde sie fündig. In einer Straße, wo der Wohnblock nur noch wenig mit dem herkömmlichen Aussehen eines Plattenbaus zu tun hat. Lift, großzügige Dachterrassen, da wo einst noch eine Etage war. Dieses Quartier ist ein Vorzeige-Projekt der kommunalen Wohnungsgesellschaft GWG. Seit sieben Jahren lebt Gabriele Machlitt hier und nennt die Vorteile ihrer Plattenbausiedlung. In der sie sich wohl fühlt.

Gute Infrastruktur in der Siedlung

„Warum soll ich hier wegziehen? Die Infrastruktur hier ist unschlagbar.“ Kindergarten und Schule für junge Eltern seien gleich um die Ecke. „Ärztehaus, Einkaufsmöglichkeiten und Bus - ich habe alles auf der Nase“, meint sie fröhlich und denkt auch an die Zeit höheren Alters, wenn sie nicht mehr so mobil ist und nicht mehr mit dem Auto fahren kann. Mitunter wird sie von Bekannten gefragt, warum sie denn immer noch in der Platte lebe. „Egal, wie das Image ist. Halle-Neustadt - ich bleib hier“ sagt die agile Frau und schaut sich in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung um.

Allerdings registriert sie durchaus die Veränderungen im größten Stadtteil von Halle. Da ist der wachsende Anteil von Migranten. „Viele tun mir einfach leid. Sie finden sich in einem für sie völlig fremden Kulturkreis wieder.“

Der Grundstein für Halle-Neustadt wurde am 15. Juli 1964 gelegt. Chefarchitekt war der vom Bauhaus beeinflusste Richard Paulick. 1967 wurde der Stadtteil zur eigenständigen Stadt erklärt. Aus dem Boden gestampft in serieller Plattenbauweise sollte das Viertel vorrangig für Chemiearbeiter der beiden großen Kombinate Leuna und Buna und ihre Familien Wohnraum bieten. Die S-Bahnen fuhren entsprechend dem Schichttakt der Chemiewerke. „Arbeiterschließfächer“ wurden die Wohnungen in den Plattenbauten häufig spöttisch genannt. Zu DDR-Zeiten lebten hier bis zu 90.000 Menschen.

Nach 1989 wurde die Neustadt per Bürgerentscheid wieder an Halle angegliedert, verlor die Eigenständigkeit. So wie vielerorts im Osten, ob Leipzig-Grünau, Eisenhüttenstadt oder Hoyerswerda, begann ein Exodus. Viele gingen auf Arbeitssuche in den Westen. Wer es sich leisten konnte, verließ die Plattenbauviertel.

Die Platte wird wieder attraktiv

Dank Rückbau und Aufwertung des Wohnumfeldes wird die Platte im Osten langsam wieder attraktiv. Und erlebt eine wachsende Akzeptanz. „Ja, die Platte erlebt eine Renaissance“, meint auch Stadtentwicklungsfachmann Bernd Hunger vom Wohnungsverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen. Er ist zugleich Vorstandsvorsitzender des Kompetenzzentrums Großsiedlungen.

Das Modell Wohnen zur Miete im Grünen mit aufgelockerter Bebauung sei durchaus gefragt. „Die Infrastruktur wurde den heutigen Bedürfnissen angepasst. Aus der früheren Kita wurde vielleicht ein Seniorentreff“ sagt Hunger. Immerhin seien seit 2002 rund 300.000 Wohnungen abgebrochen worden. Laut Bundesbauministerium wurden für den „Stadtumbau Ost“ mehr als drei Milliarden Euro von Bund, Ländern und Kommunen investiert.

Für viele sozial schwache Familien ist eine Wohnung in Halle-Neustadt oder einem anderem Plattenbauviertel in Halle oder andernorts in Ost und West die einzig bezahlbare Lösung. In Halle etwa gehören laut Bundesagentur für Arbeit 35,4 Prozent der Kinder zu Hartz-IV-Haushalten.

Vielerorts - auch in Halle Neustadt - entstehen soziale Brennpunkte. „Großsiedlungen werden immer dann zum Problem, wenn man die Belegung unsensibel handhabt“, das bleibe ein Balanceakt, sagt Hunger. „Die Siedlungen sind niemals die Ursache für Probleme, aber sie können ganz schnell zum Austragungsort werden.“

Nach seinen Angaben gibt es in der Bundesrepublik vier Millionen Wohnungen in den sogenannten Großsiedlungen. Auch wegen des wachsenden Migrantenanteils werde soziale Betreuung immer wichtiger. Hier habe auch bei den Wohnungsgesellschaften ein Umdenken eingesetzt: „Sie haben erkannt, dass sie hier auch steuern müssen.“

Die Herausforderungen der Wohnungsgesellschaften

Der Prokurist Wohnungsgesellschaft GWG in Halle-Neustadt, Alexander Conrad, weiß um die Herausforderungen. 50 Prozent derer, die eine Wohnung bei der GWG suchten, seien auf staatliche Hilfe angewiesen. „Halle-Neustadt hat das Stigma, ein Ort für die Armen und Schwachen zu sein“, sagt er. „Unseren Auftrag als kommunales Unternehmen sehen wir darin, nicht zuzulassen, dass Halle-Neustadt zum Ghetto wird.“

Deshalb müsse es hier auch Wohnungen mit gehobenem Standard geben. „Wenn das Produkt stimmt, ziehen die Leute auch nach Halle-Neustadt“, meint der Wohnungsexperte. Der Straßenzug etwa, in dem Frau Machlitt wohne, sei Mitte der 2000er Jahre ein Modellprojekt als Beitrag für die Internationale Bauausstellung IBA gewesen. Inzwischen arbeite die GWG bei der Gestaltung der Wohngebiete an Zielgruppen orientiert: seniorengerechte Wohnungen, Wohnquartiere, die sich an den Bedürfnissen von Familien orientierten, Wohnungen für Studenten als Einzelappartements.

Derzeit leben laut Conrad etwa 45.000 Einwohner in Halle-Neustadt. Seit zwei bis drei Jahren gebe es wieder leichte Zuwächse. (dpa)