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Obdachlose im Winter Winter auf der Straße: Der 43 Jahre alte Dirk aus Halle ist obdachlos - freiwillig

Von Julia Rau 23.01.2017, 07:18
Dirk und Jongleur Otto vor dem Bahnhof.
Dirk und Jongleur Otto vor dem Bahnhof. Günter Bauer

Halle (Saale) - Morgens wacht Dirk in einem abgelegenen Verschlag auf. Seit einiger Zeit hat er dort sein Nachtlager aufgeschlagen. Auf ein paar Zeitungen und einer alten Matratze ist sein Schlafsack ausgerollt. Seine Füße sind kalt, das Thermometer ist sein Wecker. „Ich habe beim Bund gelernt, dass man nicht in dicken Klamotten schlafen soll, damit man danach nicht friert“, sagt der Obdachlose.

Nach dem Aufstehen zieht er sich seine zweite Hose an. Mehrere Schichten Kleidung sollen ihn tagsüber warm halten. Unterhose und Jeans, ein paar Lagen Socken, unterm Pullover noch ein T-Shirt, alles kommt von der Kleiderkammer, darüber eine abgewetzte Lederjacke. „Ich schätze, ich bin gegen die Kälte abgehärtet von der Bundeswehr“, sagt Dirk. Seine grobe Haut und der fransige rote Bart lassen ihn älter aussehen als 43. Woher er die blutende Wunde am Kopf hat, weiß er nicht mehr. „Vermutlich wieder mal abends“, sagt er. Abends ist Dirk oft betrunken.

Sechster Winter, den Dirk auf der Straße verbringt

Es ist der sechste Winter, den Dirk auf der Straße verbringt, der vierte in Halle. Die Obdachlosigkeit habe er selbst gewählt. Nachdem seine Freundin bei einem Unfall starb und der ehemalige Kraftfahrer kurz darauf Führerschein und Job verlor, fing er an, zu trinken. Von da an sei er wie von selbst aus der Gesellschaft gefallen. Eines Tages konnte er die Miete nicht mehr zahlen. Auf Papierkram beim Arbeitsamt hatte er keine Lust. Also akzeptierte er, dass sein Leben zerbröselte und wurde obdachlos. Seither lebt er ein Einsiedlerleben mitten in Halle.

Im Winter geht der 43-Jährige nach dem Aufstehen zum Frühstücken in die Bahnhofsmission. Dort liest er Zeitung, trinkt langsam seinen Tee und spricht mit niemandem. Dirk möchte in Ruhe gelassen werden, so wie er selbst alle in Ruhe lässt. Wenn er doch redet, sagt er oft nur leise „hm“, jedes Wort kommt gut zerkaut aus seinem Mund. Je kälter es draußen ist, desto länger bleibt er in dem kleinen Raum der Mission, bestellt sich noch einen Tee. Spätestens nach der zweiten Tasse setzt er seinen zerfledderten Rucksack auf, in dem alles ist, was Dirk besitzt, und geht.

Bei jedem Schritt hört man die Flaschen klimpern

Bei jedem Schritt hört man die Flaschen darin klimpern. Den Tag verbringt der Hallenser in der Innenstadt und am Bahnhof damit, in Mülleimern nach Pfandflaschen zu kramen. Betteln sei ihm nie in den Sinn gekommen, „da würde ich mich schämen“. Hin und wieder stecke ihm jemand aber was zu, „und die Taxifahrer geben mir manchmal ihre Pfandflaschen“. Sobald er acht oder neun Euro Pfand zusammen hat, kauft er sich Bier. „Tagsüber trinke ich nicht, weil es asozial aussieht“, also wartet er bis abends. Etwa drei Liter kippt er dann in wenigen Stunden runter. So kann er besser einschlafen, sagt er.

Alkohol hat Dirk vor Jahren auf die Straße gebracht. Heute hält die Sucht ihn am Rand der Gesellschaft fest. Jeden Tag kreisen seine Gedanken um den nächsten Schluck. „Eigentlich denke ich an nichts anderes.“ Nicht an ein Leben in einer Wohnung, nicht an eine neue Freundin, nicht an eine bessere Zukunft. Nur an Bier. „Ohne Alkohol geht es nicht mehr.“ Mit anderen Obdachlosen will er auch nicht viel zu tun haben, Freunde habe er nicht, sagt Dirk. Er sei sowieso am liebsten allein. Hin und wieder redet er kurz mit Otto, der vor dem Bahnhof jongliert. Wenn Otto eine Kippe ausgibt, bleibt Dirk auch mal länger stehen. Normalerweise ist er fast den ganzen Tag ununterbrochen auf den Beinen. „Auf der Stelle stehen kann ich nicht“, sagt Dirk. Selbst nach Stunden im schneidenden Wind sind seine Hände noch warm.

Seit ihm einmal in einer Notunterkunft sein alter Armee-Rucksack geklaut wurde, meidet er die Hilfseinrichtung in Halle. Also verkriecht er sich spätabends wieder in seinen Verschlag, trinkt sein letztes Bier, zieht die Jeans aus, den Schlafsack bis zum Kinn und schläft. Wenn der Obdachlose am nächsten Morgen aufwacht, ist er meist noch nicht wieder nüchtern. (mz)