Mauerbau vor 60 Jahren Warum es ein Ehepaar nach Halle statt Leverkusen verschlagen hat
Eigentlich wollten Schaarschmidts in den Westen. Dann kam die Mauer und sie blieben. Um so größer war ihre Freude, als sie wieder gefallen ist. Warum sie stolz ist, bei der friedlichen Revolution mitgewirkt zuhaben.

Halle (Saale)/MZ - Ihre ersten Sachen waren längst per Post in den Westen gelangt. Die damals 20-jährige Renate Schaarschmidt und ihr Mann wollten folgen, sobald er das Vordiplom in Händen halten würde. Leverkusen sollte das Ziel sein, da lebten Verwandte, die der früh verwaisten Renate Schaarschmidt am nächsten standen.
Auf den Weg in den Westen kam der Mauerbau in Berlin
Es ist ja nicht so, dass die jungen Leute nicht schon einmal dort gewesen wären - vor dem 13. August 1961, als man noch vergleichsweise einfach nach Westberlin kam. In Tempelhof hob ein Flugzeug mit dem Ziel Hannover mit ihnen ab, von dort ging es mit dem Zug weiter ins Rheinland. Auf der Rücktour hätten sie noch übergesiedelte Studienfreunde ihres Mannes in Westberlin besucht, erinnert sich Renate Schaarschmidt. Ihr Entschluss stand fest: Sie wollten im Westen leben.
Dann kam die Nachricht vom Mauerbau in Berlin. Auch wenn sich die Grenzschließung ihrer Wahrnehmung nach schon eine Weile andeutete, wie Renate Schaarschmidt erzählt: „Man ahnte, dass etwas passieren würde. Aber als es so weit war, hat man einfach nicht geglaubt, dass man ein Land so abriegeln würde.“
Familie arrangierte sich mit den Verhältnissen in der DDR
Doch aus Wochen wurden Monate, Jahre und schließlich knapp drei Jahrzehnte. Schaarschmidts blieben in Halle, fassten beruflich Fuß. Zwei Söhne machten die Familie komplett. „Das Leben ging weiter“, sagt Renate Schaarschmidt. Die gelernte Kindergärtnerin betreute nach wie vor Vorschulkinder im Kröllwitzer Kinderheim, das damals „Kalinin“ hieß und nach der Wende auf Renate Schaarschmidts Initiative „Am Kirschbergweg“ heißen sollte.
Die Familie arrangierte sich mit den Verhältnissen in der DDR, so gut es ging, wie so viele. Eine Flucht kam nun nicht mehr in Frage, sich allem zu fügen, aber auch nicht. „Ich bin von Anfang an nicht für diesen Staat gewesen“, sagt Renate Schaarschmidt. Eine Mitgliedschaft in der SED zum Beispiel sei für sie nicht infrage gekommen. „Aber es hat mich auch nie jemand deswegen bedrängt.“
Bloß nicht nur Hausfrau - Fernstudium danke Betreuungsstrukturen der DDR
Es ist ein widersprüchliches Bild, das Renate Schaarschmidt von der DDR zeichnet. „Wie wäre mein Leben drüben gelaufen?“, fragt sie sich hin und wieder. „Wäre ich so selbstsicher geworden, wie ich es heute bin?“ Ein reines Hausfrauen-Dasein zum Beispiel sei für sie nicht vorstellbar gewesen, sagt sie, und dass finanzielle Abhängigkeit von einem Mann für sie nicht infrage gekommen wäre. Nicht etwa, weil in ihrer Ehe etwas nicht gestimmt hätte - Schaarschmidts haben noch Goldene Hochzeit feiern können, bevor sie Witwe wurde -, sondern weil es um Liebe auf Augenhöhe ging.
Vielleicht auch deshalb, auf jeden Fall aber aus dem Interesse, sich weiterzuentwickeln, hat Renate Schaarschmidt ein Fernstudium absolviert, als die Söhne größer waren. Da wiederum habe es die DDR ihr einfach gemacht - für die Präsenzveranstaltungen gab es im Kinderheim, dessen stellvertretende Leiterin sie war, selbstverständlich frei. „Das war unendlich großzügig“, findet sie. Der Staat habe ihr einerseits die Möglichkeit dazu gegeben, sie aber anderseits wie Millionen andere auch bevormundet und in einem Land eingesperrt.
Halt im Freundeskreis: „Ich bin stolz, Teilnehmer einer friedlichen Revolution gewesen zu sein“
Den Mund hielt sie jedenfalls nicht. Je länger die DDR fortbestand, desto öfter habe sie gesagt, was ihr nicht passte, erinnert sie sich. Sie und ihr Mann hätten ein Leben „außerhalb der DDR-Norm“ geführt - mit einem bis heute bestehenden Freundeskreis, für den sich auch die Staatssicherheit interessierte. „Wir waren ziemlich in Opposition und haben uns nicht verbogen“, sagt Renate Schaarschmidt. „Unser Freundeskreis hat uns den Mut und die Kraft dafür gegeben.“
So sei es für sie selbstverständlich gewesen, 1989 an den Montagsdemonstrationen teilzunehmen, in deren Folge die Mauer fiel. „Ich bin stolz, Teilnehmer einer friedlichen Revolution gewesen zu sein“, sagt Renate Schaarschmidt. „Die Zeit in der DDR ist einfach Teil meines Lebens, aber es ist mir ein Glück, nun in einem freien Deutschland zu leben.“