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Prozess Prozess: Ein langsames Sterben

Von SILVIA ZÖLLER 23.11.2009, 11:30

HALLE/LÖBEJÜN/MZ. - Für ihn spricht an diesem Montag sein Anwalt Mike Krause: "Mein Mandant räumt den Vorwurf voll ein. Er trauert um seine Ehefrau, die tragisch zu Tode gekommen ist, weil er seine Garantenstellung nicht eingenommen hat."

Bei dem Prozess vor dem Schöffengericht geht es nicht um ein Unglück oder einen Unfall. Die Staatsanwaltschaft wirft Bodo B. vor, für seine Frau keine ärztliche Hilfe gerufen und sie sehenden Auges an Auszehrung sterben gelassen zu haben. Die 54-jährige Marlies B., so die Anklage, lag todkrank seit Mai 2008 auf dem Küchensofa der gemeinsamen Wohnung. Nur zur Verrichtung ihrer Notdurft sei sie aufgestanden, bis sie auch dazu ab Mitte September zu schwach wurde. Weder Nahrung noch Flüssigkeit habe sie danach noch zu sich genommen. Als Marlies B. am 30. September 2008 starb, wog sie 27 Kilo. Der Vermerk des Notarztes "nicht natürlicher Tod" brachte die Ermittlungen in Gang: Die Obduktion ergab, dass die Frau an Auszehrung und Austrocknung gestorben ist - und, dass sie Krebs im Endstadium hatte.

"Auch gegen den erklärten Willen der Ehefrau hätte der Angeklagte ärztliche Hilfe holen müssen", verlas die zuständige Staatsanwältin die Anklage. Nach einem eineinhalbstündigen Prozess wurde Bodo B. rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen verurteilt. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung hatten dies beantragt.

Unstrittig ist, dass der gelernte Betonfacharbeiter gesehen hat, dass seine Frau Hilfe brauchte. Doch der stille Mann aus einfachen Verhältnissen sah sich in einem Zwiespalt: Häufig habe er gefragt, wie es seiner Frau gehe und angeboten, einen Arzt zu rufen, sagt sein Anwalt. "Die Ehefrau hatte ärztliche Hilfe strikt verneint. Mein Mandant hat diesen Willen respektiert", so Jurist Krause.

Das Wenige, was B. im Prozess über die Lippen kommt, beschreibt ein eheliches Zusammenleben, in dem die Ehefrau stets das Sagen hatte - während sie mit ihrer geistig behinderten Tochter in der Küche aß, musste Bodo B. immer in einem anderen Zimmer essen. "Aus Platzgründen", erzählt B. mit gesenktem Blick.

Auch dem Schwager des Angeklagten war bereits 2007 aufgefallen, dass seine Schwester immer schwächer wurde. Dennoch wagte er es nicht, einen Arzt zu rufen. "Sie wurde böse und sagte, dass sie das nicht braucht", sagte er als Zeuge vor Gericht.

Dennoch, so der Vorsitzende Richter Hans Maynicke in der Urteilsbegründung, hätte der Angeklagte seiner Sorgfaltspflicht nachkommen müssen und ärztliche Hilfe holen sowie für eine Betreuung durch einen Pflegedienst sorgen müssen.

Wer Bodo B. hätte helfen können, beantwortete der Prozess indes nicht. Eine Mitschuld bei Nachbarn noch Verwandten, die von dem Zustand der Frau wussten, sah die Staatsanwaltschaft nicht. Es habe keine Ermittlungen wegen unterlassener Hilfeleistung gegeben, "da andere Personen in keiner Garantenstellung wie der Ehemann waren", so Oberstaatsanwalt Andreas Schieweck. "Solange sie nicht alle Umstände kannten und die Hoffnung hatten, das man sich um die Frau kümmert, kann man ihnen keinen Vorwurf machen."

Unabhängig von dem am Montag verhandelten Fall macht Hans Lilie, Direktor des interdisziplinären wissenschaftlichen Zentrums Medizin-Ethik-Recht an der halleschen Martin-Luther-Universität, eines klar: "Das Selbstbestimmungsrecht ist ein Grundrecht." Wenn ein Patient sich nicht behandeln lassen möchte, so wäre jeder Eingriff eines Arztes eine Körperverletzung - vorausgesetzt, der Betroffene ist bei seiner Entscheidung bei klarem Bewusstsein, sagt der Professor. "Auch der Bundesgerichtshof hat verschiedene Entscheidungen getroffen, nach denen der Wille des Menschen berücksichtigt werden muss, selbst wenn er gegen die menschliche und ärztliche Vernunft geht", so Lilie. Allerdings müsse stets eine Grundpflege gewährleistet sein, zu der auf alle Fälle eine Flüssigkeitsversorgung zählt.

Schon ein Telefonat hätte Bodo B. indes weiterhelfen können. "Das Gesundheitsamt des Saalekreises bietet Anrufern in seelischen oder psychischen Notlagen die Möglichkeit, einen Hausbesuch oder einen Termin zu vereinbaren", so Amtsärztin Annegret Muchow. So hätte Bodo B. seine schwierige Situation möglicherweise klären können und seiner Frau Leid erspart - und sich selbst eine Verurteilung.