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Keine Berührungsängste Projekttage führen Schüler an Themen Tod und Krankheit heran

Von Bärbel Böttcher 07.04.2018, 14:05
Viertklässler besuchen eine Patientin auf der Palliativstation. Auch die Puppe Jonas ist dabei. Sie steht am Fußende.
Viertklässler besuchen eine Patientin auf der Palliativstation. Auch die Puppe Jonas ist dabei. Sie steht am Fußende. Holger John

Halle (Saale) - Ist das Bett eigentlich bequem?“ Den neunjährigen Tim interessiert das brennend. Tim geht in die vierte Klasse der Lessing-Grundschule in Halle. Gemeinsam mit seinen Klassenkameraden besucht er eine schwerkranke Patientin auf der Palliativstation des Krankenhauses Martha Maria in Halle-Dölau. Als Antwort auf seine Frage demonstriert Schwester Susanne Schober, dass das Bett auf Knopfdruck nach oben oder unten bewegt und das Kopfteil verstellt werden kann.

So, wie es eben für die Patientin am angenehmsten ist. Andere Kinder wollen wissen, ob es nicht langweilig wird, den ganzen Tag im Bett zu liegen. Die Patientin gibt bereitwillig Auskunft, erzählt von dem Buntspecht, den sie am Morgen in einem Baum vor ihrem Zimmer beobachtet hat. Einer der jungen Besucher entdeckt schließlich Fernseher und Radio. Er nickt anerkennend: „Gut ausgestattet.“

Kinder zeigen kaum Berührungsängste

Eine Schülerexkursion auf die Palliativstation einer Klinik? Dorthin, wo Menschen mit unheilbaren Erkrankungen gepflegt werden? Ist das Kindern zuzumuten? Bis auf wenige Ausnahmen haben die Viertklässler keine Berührungsängste. Sie sind auch gut vorbereitet gekommen. Denn der Besuch ist Höhepunkt dreier Projekttage, die das Krankenhaus in Kooperation mit der Sachsen-Anhaltischen Krebsgesellschaft und dem Puppentheater der Bühnen Halle durchführt.

Und vor einiger Zeit haben die Kinder - quasi als Einstieg - im Puppentheater das Stück „Überall und nirgends“ gesehen, in dem es, angelehnt an den gleichnamigen Gedichtband von Bette Westera um das Thema Abschiednehmen geht, um die Reise vom Diesseits ins Jenseits.

Die Idee zu dem Projekt kam direkt von den Mitarbeitern der Palliativstation. Immer wieder sahen sie sich mit der Frage von Eltern konfrontiert: Dürfen wir Kinder mit ins Krankenhaus zu einem schwerstkranken Angehörigen bringen? Ist es gut, wenn sie die geliebte Mama, den geliebten Papa oder auch die Großeltern so verändert sehen? Überfordert das die kleinen Seelen?

Experten: Kinder beim Thema Tod einbeziehen

„Wir haben gesehen, dass es da viel Unsicherheit und demzufolge Informationsbedarf gibt“, sagt Krankenhausseelsorgerin Sabine Schober. „Aber es ist wichtig, dass sich die Kinder in solch einer Situation nicht ausgeschlossen fühlen“, betont die Pastorin. Wenn man sie da fernhalte, könne das gravierende Folgen für ihr ganzes späteres Leben haben.

Das unterstreicht auch die am Projekt beteiligte Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Inés Brock. „Kinder sollten - natürlich altersgerecht - immer einbezogen werden“, sagt sie. Sie hält es für wichtig, sie an der Beerdigungen etwa der Großeltern teilnehmen zu lassen. Oder es ihnen zu ermöglichen, die tote Mama noch einmal sehen zu dürfen, sich von ihr zu verabschieden. Das sei existenziell wichtig. Wenn das nicht geschehe, bleibe immer eine mit Traurigkeit belastete Leerstelle in der Biografie.

Kinder trauern anders als Erwachsene

Inés Brock verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Kinder eine andere Art der Trauerbewältigung haben als Erwachsene. Sie verarbeiten eher in kleinen Etappen, sagt sie. „Kinder fallen nicht in ein tiefes Loch, aus dem sie dann lange nicht herauskommen, sondern wollen nach einer Portion Trauer wieder Alltag haben.“

Allerdings geht es im Projekt nicht ausschließlich um das Sterben. „Wir setzen viel früher an“, sagt Ilka Hammer, stellvertretende Pflegedienstleiterin am Krankenhaus Martha Maria und Projektleiterin. Es gehe um das Kranksein, das natürlich auch lebensbedrohlich oder lebenszeitverkürzend sein könne. „Und dabei wollen wir mehr als nur die Botschaft vermitteln: Hier ist das Krankenhaus und ihr könnt alle kommen“, unterstreicht sie.

Projekt will Kindern Strategien zeigen, mit dem Tod umzugehen

„Wir wollen den Kindern etwas an die Hand geben, was es ihnen ermöglicht, zu verstehen, was sie da gerade erleben, ihnen Strategien aufzeigen, die sie in solchen Situationen stark machen.“

Schritt für Schritt entwickelte sich so über einen Zeitraum von anderthalb Jahren das Projekt. Fachleute aus der Theater- und Musikpädagogik, der Kinder- und Jugendpsychotherapie sowie der Kunsttherapie wurden mit ins Boot geholt und der Kontakt zur Lessing-Schule geknüpft. Und so erblickte auch die Puppe Jonas das Licht der Welt, nach der das Projekt benannt wurde: Jonas will’s wissen.

Theaterstück rahmt Projekttage zu Krankheit und Tod ein

Jonas, der am Anfang und am Ende der Projekttage in einem kleinen Theaterstück moniert, dass er seinen kranken Opa in der Klinik nicht besuchen darf und alle seine Fragen zum Thema Krankheit und Tod von den Eltern abgewiegelt werden. Angeblich nur zu seinem Schutz. Dabei will Jonas doch nicht ausgeschlossen sein aus dem, was die Erwachsenen bedrückt.

Die Puppe steht stellvertretend für die Viertklässler. Sie haben die gleichen Fragen wie er. Antworten darauf werden an zwei Tagen in der Schule in kleineren Gruppen erarbeitet. In vier Themenkreisen geht es darum, was es heißt, unheilbar krank zu sein, was sich in der Gefühlswelt verändert, wenn eine Krankheit in die heile Welt der Familie hereinbricht, welche Unterstützung es gibt.

Aber auch, wie sie auf die Kranken zugehen und ihnen helfen können. Die Erfahrung zeige, so betont Projektleiterin Ilka Hammer, dass ein Kind am Genesungsprozess des Kranken Anteil habe. „Das ist eine Ressource, die wir nutzen sollten. Auch wenn es nur für ein oder zwei Stunden sin - für den Patienten ist es ein Gewinn.“

Welches Alter ist richtig?

Natürlich werden in das Projekt auch Eltern und Lehrer einbezogen. Bei einigen galt es im Vorfeld Vorbehalte abzubauen. Auch Katrin Jantschik, deren Tochter Mica zu den Viertklässlern gehört, sagt, dass sie nicht sicher gewesen sei, in welchem Alter mit Kindern über Krankheit, Sterben und Tod gesprochen werden sollte.

Auf der anderen Seite erzählt sie von ihrem Vater, der vor fünf Jahren einen schweren Unfall erlitten hat und auf der Intensivstation lag. Damals sei Mica noch nicht sechs Jahre alt gewesen und durfte deshalb ihren Opa, der den Unfall überlebte, dort nicht besuchen. „Sie musste vor der großen Glastür warten und das belastet sie heute“, sagt Katrin Jantschik. Das Erlebnis komme immer mal wieder hoch. Die Mutter fragt sich, ob das anders wäre, wenn Mica damals hineingedurft hätte.

Es sei wichtig, mit Kindern darüber zu reden, dass das Leben endlich sei, sagt Katrin Jantschik. Kinder sähen ja im Familien- oder Bekanntenkreis, dass Menschen sterben. Sie kämen gar nicht darum herum, sich damit auseinanderzusetzen. Das Jonas-Projekt findet sie aus diesem Grunde gut. Die Projekt-Tage zeigen denn auch: Nicht nur Jonas will’s wissen. Sondern auch Mica, Tim, Lena, Fabienne oder Konrad.