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Letztes Gefecht bei Halle Letztes Gefecht bei Halle: Kriegs-Irrsinn im Mai 1945: 50 Deutsche gegen die US-Armee

Von Julius Lukas 09.06.2017, 10:00
Der 87-jährige Helmut Böltzig (links) hat die Kriegstage in  der Region Halle erlebt. Mit seinem Bruder Wilfried hat er die Geschehnisse aufgeschrieben.
Der 87-jährige Helmut Böltzig (links) hat die Kriegstage in  der Region Halle erlebt. Mit seinem Bruder Wilfried hat er die Geschehnisse aufgeschrieben. Andreas Stedtler

Hätte es ihm jemand befohlen, dann wäre Helmut Böltzig in das letzte Gefecht gezogen. Dann wäre er am 14. April 1945 aus seinem Heimatort Friedrichsschwerz runter an die Saale marschiert, ins zwei Kilometer entfernte Brachwitz, wo sich ein Haufen ausgelaugter deutscher Soldaten und Dorfbewohner sammelte.

Er hätte mit ihnen Schützengräben ausgehoben, sich im alten Bauerngehöft verbarrikadiert und dort auf die US-Armee gewartet. Und dann hätte er sich den Amerikanern in den Weg gestellt. „Wir waren ja so erzogen worden: für Volk und Vaterland“, sagt der 87-jährige Böltzig und klingt dabei, als wolle er sich noch heute dafür entschuldigen.

Der blutige Sonntag bei Halle

Doch niemand forderte ihn, den damals 14-jährigen Jungen, auf, in den Kampf zu ziehen. Niemand verlangte von ihm diesen Irrsinn. „In Friedrichsschwerz hatte man schon die weiße Fahne gehisst und mein Vater dachte gar nicht daran, Brachwitz zu verteidigen“, erzählt Böltzig. „Das war mein Glück.“ Denn sonst könnte der betagte Mann heute vielleicht nicht von diesem Gefecht, das eines der letzten in der Region war und fast schon in Vergessenheit geraten ist, erzählen.

Von dem hoffnungslosen Verteidigungsversuch einiger weniger, der im „blutigen Sonntag von Brachwitz“ endete, der aber auch mit der Lehrerin Eva Kühne eine Heldin hervorbrachte.

Zweiter Weltkrieg in der Region Halle

Böltzig ist einer der letzten Zeugen dieser Geschehnisse. Zusammen mit seinem 13 Jahre jüngeren Bruder Wilfried und dem Heimatverein Friedrichsschwerz hat er die Tage erforschte, in denen der Zweite Weltkrieg in ihren Ortschaften Station machte. Bis nach Amerika haben sie ihre Recherchen geführt. Ihr Antrieb: „Wenn wir die Erinnerungen meines Bruders jetzt nicht festhalten, dann wäre dieses Kapitel Geschichte für immer verloren“, erklärt Wilfried Böltzig.

Die beiden Brüder sitzen, während sie erzählen, vor einem Schuppen im Garten ihres Familienanwesens. Ein Rasenroboter raspelt das Gras der Wiesen kurz, am Horizont drehen Windräder gemächlich ihre Runden. Dazwischen ragt die Kalihalde von Teutschenthal in den Himmel - der „Kalimandscharo“, wie man hier sagt.

„Bis zum 14. April 1945 war meine Welt eigentlich in Ordnung“

Helmut Böltzig sieht nicht mehr so gut, sagt er. Und auch das Hören falle ihm schwer. Dafür allerdings sprudeln die Erinnerungen nur so aus ihm heraus. „Bis zum 14. April 1945 war meine Welt eigentlich in Ordnung“, erzählt er. Es ist der Tag vor dem letzten Gefecht, die Sonne scheint über der Saale. „Gegen Mittag hörte ich das erste Mal dieses Grollen in der Ferne, das wie ein Gewitter klang.“ Böltzig geht damals in Halle zur Lehre. Er will Zimmermann werden. Das Grollen allerdings ist kein Gewitter. Es sind die Geschütze der Alliierten. Doch das weiß Böltzig zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

„Am frühen Nachmittag fuhr ich mit dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause“, erinnert sich der heute 87-Jährige. Er passiert brennende Anlagen, die von Wehrmachtssoldaten angesteckt worden waren. Und dann sieht er auf der anderen Seite der Saale die US-Armee das erste Mal. „Eine schier endlose Kolonne von Fahrzeugen bewegte sich auf Halle zu“, erinnert sich Böltzig. Die Soldaten gehörten zur 104. Infanteriedivision, die heute besser bekannt ist unter ihrem Spitznamen „Timberwölfe“. Ihr Ziel ist es, die Großstadt einzunehmen.

„Timberwölfe“ wollen Halle umstellen

Um Halle zu umstellen, müssen sie die Saale überqueren. Allerdings wurden die neun Brücken, die es in und um die Stadt gibt, bereits durch Wehrmacht und Volkssturm zerstört. „Auch in Brachwitz existierte der Übergang nicht mehr“, erzählt Böltzig. Im Ort waren Soldaten und Freiwillige damit beschäftigt, Schützenlöcher auszuheben und Verteidigungsstellungen vorzubereiten. Das Dorf sollte nicht kampflos aufgegeben werden. „Das ist für mich aus heutiger Sicht so unverständlich“, sagt Böltzig. „Die Deutschen wollten etwas verteidigen, was längst verloren war.“

In seinem Elternhaus in Friedrichsschwerz hielt den Jugendlichen an diesem Nachmittag nichts mehr. Der Ort liegt etwas oberhalb der Saale. Und der Lehrling beobachtete von verschiedenen Aussichtshügeln, wie die Amerikaner ihre Einheiten zusammenzogen. Am Nachmittag kam dann der Befehl zur Mobilmachung für alle wehrfähigen Männer in Friedrichsschwerz. Kaum jemand folgte allerdings dem Aufruf, so dass sich in Brachwitz am Abend etwa 50 Deutsche versammelt hatten. Die waren aber fest entschlossen, den Ort zu verteidigen.

Das letzte Gefecht in Brachwitz bei Halle

Das letzte Gefecht fand dann in den Morgenstunden des 15. April, einem Sonntag, statt. Die Amerikaner wollten Brachwitz einnehmen, weil ihnen die Überquerung der Saale dort einfach erschien. „Sie rückten von zwei Seiten auf den Ort vor“, erzählt Böltzig. Welche Dramatik sich dann in Brachwitz abspielte, erlebte er selber nicht. Doch es wurde ihm später erzählt.

Der Zweite Weltkrieg schrieb nur wenige positive Geschichten. Eine davon war „Das Wunder von Halle“. Die Stadt konnte vor einer Zerstörung gerettet werden, was auch der Verdienst von Felix Graf von Luckner (Foto) war. Der bewegte den US-General Terry Allen dazu, Halle nicht bombardieren zu lassen und stattdessen auf eine friedliche Übergabe der Stadt zu setzen. Das gelang schließlich auch. Damit ist Halle die einzige Großstadt, die im Zweiten Weltkrieg vor einer kompletten Verwüstung bewahrt werden konnte.

Als die US-Armee in den Ort eindringt, liefern die Deutschen heftige Gegenwehr. Es kommt zu Schusswechseln und schließlich gibt es die ersten Opfer. „Bei den Kämpfen starben zehn deutsche und drei amerikanische Soldaten, von denen einer sogar ein Captain war“, berichtet Bötzig. Der jüngste Tote ist 17 Jahre alt.

Der blutige Sonntag von Brachwitz

Und wahrscheinlich wäre der blutige Sonntag von Brachwitz noch weitaus blutiger geworden, wenn es Eva Kühne nicht gegeben hätte. Die junge Frau aus Friedrichsschwerz machte sich am Morgen auf dem Weg nach Brachwitz. Dort will sie Lebensmittel einkaufen. „Dabei geriet sie allerdings zwischen die Fronten“, erzählt Böltzig. Die Englischlehrerin kann sich jedoch mit beiden Seiten verständigen.

„Die Amerikaner machten ihr klar, dass sie ganz Brachwitz in Schutt und Asche legen werden, wenn die restlichen Deutschen nicht sofort kapitulieren.“ Kühne trägt die Botschaft weiter und schafft es schließlich, die deutschen Verteidiger von der Wahnwitzigkeit ihres Vorhabens zu überzeugen. „Ohne sie gäbe es Brachwitz heute vielleicht gar nicht mehr“, sagt Böltzig. „Was sie gemacht hat, war heldenhaft.“

Tafel in Friedrichsschwerz für den Frieden

Auch deswegen hat Eva Kühne einen Platz ganz oben auf der Gedenktafel bekommen, die die Brüder Böltzig in Friedrichsschwerz aufstellen wollen. Auf der sind auch die Männer notiert, die bei dem Gefecht starben. „Über ein Mitglied im Heimatverein haben wir sogar in den USA die Namen der amerikanischen Soldaten herausgefunden“, erzählt Wilfried Böltzig.

Die Tafel, die in der Ortsmitte angebracht werden soll, ist zwar nur ein kleines Puzzleteil in der Erinnerungslandschaft. „Aber wir hoffen, dass jeder der sie sich anschaut, merkt, welchen Irrsinn der Krieg hervorbringt“, sagt Wilfried Böltzig. „Und wie wichtig deswegen der Frieden ist“, ergänzt sein Bruder.