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Havag-Projekt Havag-Projekt: Psychologen am Steuer

Von Walter Zöller 01.05.2016, 06:00
Der Blick aus dem Füh­rer­stand einer Stra­ßen­bahn. Die Fahrer müssen hoch kon­zen­triert arbeiten.
Der Blick aus dem Füh­rer­stand einer Stra­ßen­bahn. Die Fahrer müssen hoch kon­zen­triert arbeiten. Jens Schlueter

Halle - Eine Szene auf dem halleschen Markt: Die Straßenbahn der Linie 5 fährt in gemäßigtem Tempo auf die Haltestelle zu. Dort wartet auch eine jüngere Frau mit Kinderwagen.

Aus heiterem Himmel schiebt sie plötzlich das Gefährt auf die Gleise. Die Fahrerin der Bahn leitet eine Vollbremsung ein. Es gelingt ihr, den Wagen rechtzeitig zum Stillstand zu bringen. Sie ist kreidebleich im Gesicht. Und dankbar, einem Albtraum entgangen zu sein.

"Solche und ähnlich brenzlige Situationen passieren immer wieder. Sie stellen für die Straßenbahnfahrer einen zusätzlichen riesigen Stressfaktor dar", sagt Florian Henze. "Ich ziehe den Hut vor den Tram-Fahrern", ergänzt Therese Kästner. "Sie haben mit ihrer umsichtigen Fahrweise schon viele Leben gerettet."

Forscher und Straßenbahnfahrer

Henze und Kästner wissen, worüber sie reden: Beide sind einerseits Arbeitspsychologen, als Wissenschaftliche Mitarbeiter forschen und lehren sie am Institut für Psychologie der Uni in Halle. Und beide sind ausgebildete Straßenbahnfahrer. Sie steuern in zwei bis drei Schichten pro Monat eine Tram im Linienverkehr durch den Berufsverkehr.

Diese Kombination dürfte einmalig in Deutschland sein. Möglich macht das eine Vereinbarung zwischen der Halleschen Verkehrs-AG (Havag) und der Universität.

"Wir wollen wissen, wie hoch die psychische Belastung unserer rund 300 Straßenbahnfahrer ist", sagte René Walther, Arbeitsdirektor des Verkehrsunternehmens. Die Havag reagiert damit auch auf den Gesetzgeber: Denn entsprechende Untersuchungen werden seit 2013 im Arbeitsschutzgesetz vorgeschrieben.

Mit dem Uni-Institut für Psychologie - genauer der Abteilung für Arbeit und Gesundheit - fand die Havag den richtigen Partner: Dessen Mitarbeiter untersuchen regelmäßig, was die Arbeitswelt mit dem Arbeitnehmer macht.

Dies ist das Besondere an der Zusammenarbeit in Halle

Nun hätten Havag und Universität den üblichen Weg gehen können: also Fragebögen erarbeiten, möglichst viele Havag-Fahrer interviewen, Fachliteratur sichten und einen Feldversuch organisieren.

All diese Aufgaben erledigt das Duo Henze/Kästner auch - aber eben noch viel mehr. "Die Havag fragte Florian und mich, ob wir den Straßenbahnführerschein machen wollen. Das hat mich unheimlich gefreut", sagt Therese Kästner. Führerhaus statt Schreibtisch also - die beiden Psychologen sollten ab und an den Arbeitsplatz und damit auch die Perspektive wechseln.

"Ich hatte zunächst Bedenken, wie wir von den Fahrern aufgenommen werden. Und einige hatten auch Vorbehalte", erinnert sich Therese Kästner an die Anfänge. Doch dürfte sich das bei den meisten schnell geändert haben.

Herzliches Arbeitsklima

"Die Fahrer sind total herzlich", beschreibt Therese Kästner das Arbeitsklima. Wohl auch, weil die langjährigen Havag-Angestellten rasch gemerkt haben, dass die neuen Kollegen es ernst meinten und nicht nur einfach mal "zum Spaß" eine Straßenbahn steuern wollten.

Henze und Kästner durchliefen das gesamte Ausbildungsprogramm. Was bedeuten die Schilder entlang der Straßenbahnstrecken? Wie funktioniert die Technik einer Straßenbahn ? Welche Betriebsordnung gilt auf dem Havag-Depot? Was ist beim Umgang mit dem Fahrgast zu beachten?

Die Stadtwerke Halle, zu denen auch die Havag gehört, sind mehrere Partnerschaften mit wissenschaftlichen Einrichtungen eingegangen. So unterstützen die Stadtwerke unter anderem die Gründerwochen der Martin-Luther-Universität. Die Hallesche Verkehrs AG kooperiert mit der Universität nicht nur bei der Straßenbahnstudie. Eine andere Untersuchung beschäftigt sich mit der Frage, welche Auswirkung eine ständige Erreichbarkeit auch in der Freizeit für Arbeitnehmer haben kann. Ein Psychologe beschäftigt sich derzeit mit den Auswirkungen von Zielvereinbarungen, die Firmen mit Mitarbeitern vereinbaren. (mz)

Die Theorie ließ sich ebenso wenig mit links bewältigen wie der praktische Teil: Zunächst durften die beiden auf dem Betriebsgelände erste Fahrversuche machen, dann ging es im Fahrschulwagen durch die Stadt, später kamen noch 18 normale Schichtdienste im Linienverkehr unter Aufsicht hinzu.
Die beiden Psychologen lernten so nach und nach den Alltag eines Straßenbahnfahrers kennen - und der hat es in sich. Da ist zum Beispiel das Schichtsystem mit unterschiedlichen Anfangszeiten, das die Fahrer stark beansprucht. "Dienstbeginn 3.15 Uhr - das war für mich anfangs der Horror", sagt Therese Kästner. Sie weiß aber auch, dass sich einige Havag-Fahrer auf diese Schicht spezialisiert haben.

Kampf gegen Verspätungen

Da ist der tägliche Kampf gegen Verspätungen. Hier ein kleiner Stau, da ein falsch geparktes Auto, das im Weg steht - schon gerät der Fahrplan aus dem Takt. So schwindet für den Fahrer die Pausenzeit an der Endhaltestelle. "Dies sind große Stressfaktoren. Denn die Fahrer wollen bei der nächsten Tour nicht schon mit Verspätung los fahren", bescheibt Florian Henze seine Erfahrungen.
Und da sind Autofahrer, die plötzlich links abbiegen und mit ihrem Wagen quer zur herannahenden Bahn stehen. Dass es nicht zu mehr Kollisionen kommt, hat vor allem mit den Straßenbahnfahrern zu tun. Sie ahnen oft, was zwei Kreuzungen weiter passieren könnte. Oder, wie es Therese Kästner ausdrückt: "Sie haben das vorausschauende Fahren richtig verinnerlicht."
Aber das geht nicht ohne Anspannung. Wie stark sie ist, ob und wenn ja wie sich Arbeitsbedingungen verbessern lassen - all das werden Florian Henze und Therese Kästner im Rahmen ihrer Studie feststellen. Endgültige Ergebnisse sollen der Havag im kommenden Jahr vorgelegt werden.
So lange werden die beiden noch regelmäßig im Führerhaus einer Havag-Bahn sitzen - und weitere Erfahrungen sammeln. (mz)