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"Haben aus Fehlschlägen gelernt" "Haben aus Fehlschlägen gelernt": Professor Hans-Ulrich Demuth aus Halle zum Stand der Alzheimer-Forschung

12.11.2019, 11:00
Hans-Ulrich Demuth (zweiter von links) im Kreise von Wissenschaftlern in Halle
Hans-Ulrich Demuth (zweiter von links) im Kreise von Wissenschaftlern in Halle Michael Deutsch/Fraunhofer IZI

Halle (Saale) - Immer mehr Menschen erkranken an Alzheimer. Einen Durchbruch bei der Entwicklung von Medikamenten hat es bisher nicht gegeben. MZ-Redakteur Walter Zöller sprach darüber mit Professor Hans-Ulrich Demuth, der seit vielen Jahren in der Alzheimer-Forschung aktiv ist. Demuth leitet die Außenstelle Halle des Fraunhofer-Instituts für Zelltherapie und Immunologie (IZI).

Zuletzt hat es mehrere schwere Rückschläge in der Alzheimer-Forschung gegeben. So hat der US-amerikanische Biotechnologiekonzern Biogen überraschend eine klinische Studie zu einem vielbeachteten Wirkstoff abgebrochen. Was ist da passiert?

Hans-Ulrich Demuth: Bekannt wurde das Forschungsvorhaben im Jahr 2014, als Biogen während eines Kongresses vielversprechende Daten aus der klinischen Phase II veröffentlichte. Was hat Biogen gemacht? Die Forscher haben einen Antikörper entwickelt, der nicht von einer Maus, sondern einem Menschen abgeleitet wurde. Dahinter steckt folgende Idee: „Es gibt nicht-demente Hundertjährige, schauen wir uns doch mal an, was die für endogene Antikörper besitzen.“ Und dann haben die Wissenschaftler aus der Schweiz solche Antikörper herausgefiltert, die gegen die Ablagerungen im Gehirn wirksam sind, die für Alzheimer mitverantwortlich gemacht werden. Die Daten zeigen dosisabhängig eine Abnahme dieser Ablagerungen. Und zwar ganz sauber statistisch belegt.

Und wo ist der Haken?

Demuth: Was sich nicht verändert hat, ist die Kognition, also die Gedächtnisleistung und das Verhalten der Alzheimer-Patienten. In einer Zwischenauswertung der Studie, die extrem teuer war, muss also herausgekommen sein, dass der von Biogen entwickelte Wirkstoff bei den Patienten zu keiner Verbesserung ihres Zustands führte. Das widerspiegelt das Dilemma der Alzheimer-Forschung an dieser Stelle: Man ist jahrelang davon ausgegangen, dass Plaques die Ursache für Alzheimer sind. Und jetzt haben wir - nicht nur aus der Biogen-Studie, sondern auch aus anderen Untersuchungen der pharmazeutischen Industrie - gelernt, dass es das allein nicht sein kann. So ist auch der Antikörper, den der Pharmakonzern Pfizer entwickelt hat, vor vier oder fünf Jahren abgestürzt.

Die Plaques gehen also zurück, aber das Krankheitsbild verändert sich nicht?

Demuth: Es scheint so zu sein, dass die Ablagerungen bei der Entstehung von Alzheimer nicht die alleinige Rolle spielen.

Was bedeutet das Scheitern der Forschungsansätze für die Wissenschaft? Steht man jetzt wieder ganz am Anfang?

Demuth: Auf keinen Fall. Zu wissen, dass etwas nicht funktioniert, ist ja auch eine wichtige Erkenntnis. Aber es ist natürlich ein Desaster für all die Leute, die ihr Geld in diese Alzheimer-Forschungen gesteckt haben. Und natürlich auch für die Pharma-Unternehmen.

Über welche Beträge reden wir da?

Demuth: Das ist schon beträchtlich. Pfizer hat seine Alzheimer-Forschung mittlerweile komplett eingestellt. Die 30 Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) geben pro Jahr rund zehn Milliarden Dollar für die Alzheimer-Forschung aus. Das scheint ein Riesenkuchen. Aber wenn man weiß, dass jedes einzelne Projekt schnell in die Milliarden gehen kann, dann relativiert sich das. Und wir stellen fest: Es ist jetzt deutlich schwerer, Geld für Test von Alzheimer-Medikamenten zu bekommen. Das Risikoverhalten der Investoren geht immer weiter runter.

Obwohl so viele Fragen unbeantwortet sind, dennoch: Wie entsteht Alzheimer?

Demuth: Man weiß heute, dass der Beginn der neurodegenerativen Veränderungen im Hirn 15 bis 20 Jahre vor der ersten klinischen Charakterisierung beginnt. Der Patient hat zum Zeitpunkt der Beschreibung des Krankheitsbilds durch einen Neurologen also schon 15 Jahre eine Krankheitsgeschichte hinter sich, von der er nichts mitbekommen hat. So hat ein Teil des Gehirns, der Hippocampus, zu diesem Zeitpunkt bereits die Hälfte seiner Nervenzellen verloren. Wenn 50 Prozent dieser Neuronen schon im Eimer sind und erst dann eine klinische Symptomatik auftritt - der Patient also die Kaffeekanne in den Ofen stellt -, dann ist das schon dramatisch.

Was geschieht da im Gehirn?

Demuth: Jeder Alzheimer-Forscher, den sie fragen, lebt auf Grund seiner Forschungsergebnisse und Schlussfolgerungen in einer eigenen Welt. Meine Vorstellung ist: Bestimmte genetische Voraussetzungen begünstigen eine Alzheimer-Erkrankung. Und die sind längst noch nicht alle bekannt.

Sie waren Ende der 90er Jahre Mitgründer der halleschen Firma Probiodrug. Auf Grund Ihrer wissenschaftlichen Kompetenz hat das Unternehmen einige Jahre später möglicherweise einen Wirkstoff gegen Alzheimer entdeckt, was damals für riesiges Aufsehen sorgte. Aus Probiodrug wurde im Sommer dieses Jahres Vivoryon, Sie sind wissenschaftlicher Berater des Unternehmens und halten einige Anteile. Das Medikament ist jetzt in der klinischen Testphase. Wie wirkt der Wirkstoff?

Demuth: Es gibt ein Protein, genauer gesagt ein Enzym in unserem Immunsystem, das auch im Hirn eine wesentliche Rolle spielt. Das ist verantwortlich für die Bildung von toxischen Peptiden, also bestimmter organischer Verbindungen, die die Nerven schädigen. Mit dem von uns entwickelten Wirkstoff wird dieses Enzym gehemmt, es entstehen weniger giftige Peptide.

Wie viel Geld hat Probiodrug/Vivoryon bisher in die Erprobung des Wirkstoffs gesteckt?

Demuth: Es wurden bislang rund 105 Millionen Euro ausgegeben.

Angesichts der Summen, die Sie zuvor genannt haben, fast ein kleiner Betrag.

Demuth: Probiodrug hat nie große Patientenstudien gemacht. Unsere zweite Studie, die vor eineinhalb Jahren publiziert wurde, hat aber gezeigt, dass unser Wirkstoff die geistige Leistung von Alzheimer-Patienten verbessert - und das deutlich statistisch signifikant. Unser Medikament hat Einfluss auf positives Verhalten der Patienten, was sich bei den von der großen pharmazeutischen Industrie entwickelten Antikörpern nicht gezeigt hat. Die Verhaltensmuster der Alzheimer-Patienten, die unseren Wirkstoff erhalten haben, hatten sich im Gegensatz dazu sichtbar verbessert.

Wie geht es jetzt weiter?

Demuth: In der ersten klinischen Studie ging es darum festzustellen, dass der Wirkstoff dem gesunden Menschen keinen Schaden zufügt. In der Studie 2a haben wir vor allem die Sicherheit am Patienten untersucht. In Studie 2b muss jetzt die Wirksamkeit des Medikaments auf die Kognition bei ungefähr 600 Patienten nachgewiesen werden. Das ist ein Riesenunterfangen. Schon bei der Studie 2a waren 15 Kliniken in acht europäischen Ländern eingebunden. Die neue Studie beginnt 2020 und dauert mit der Auswertung etwa eineinhalb Jahre. Und dann wird sich hoffentlich ein großer Investor finden, der Testphase 3 - die letzte vor der Markteinführung - begleitet.

Forscher suchen weltweit nach Therapieansätzen gegen Alzheimer. Welche Patienten haben Sie im Blick? Auch die Menschen, bei denen Alzheimer schon weit fortgeschritten ist?

Demuth: So furchtbar es ist: Wenn schon viele Nervenzellen zerstört sind, lässt sich nichts mehr machen. Eine Therapie muss also sehr zeitig, schon in den Frühphase der Erkrankung beginnen. Die Forschung geht deshalb momentan dahin, so zeitig wie möglich Früherkennung zu betreiben. Ein MRT beispielsweise zeigt nur den Spätzustand. Wir brauchen zum Beispiel biochemische Marker, die frühzeitig anzeigen, dass der Alzheimer-Prozess vonstatten geht. Die Suche nach diesen Stoffen, die Auskunft über den Zustand im Körper geben, laufen. Und es gibt vielversprechende Ansätze.

Nennen Sie einige Beispiele.

Demuth: Es gibt elektrochemische Untersuchungen. Tetrawellen feuern bei Alzheimer-Patienten wie verrückt. Wenn es Neuronen besser geht, geht diese Frequenz zurück. Ein anderer Marker könnte Neurogranin sein. Dieses Protein wird freigesetzt, wenn sich synaptische Verbindungen im Gehirn auflösen. Desto weniger Neurogranin im Blut, desto besser geht es dem Gehirn.

Also können Ärzte ihren Patienten bald frühzeitig sagen: Die Gefahr ist groß, dass Sie Alzheimer bekommen. Aber eine Therapie gibt es noch nicht.

Demuth: Mittlerweile wird verstärkt auch jene Forschung gefördert, die zu einem Wirkstoff auch diagnostische Verfahren mit untersucht.

Wann gibt es den Durchbruch? Wann kommt ein wirkungsvolles Medikament gegen Alzheimer auf den Markt?

Demuth: Die Wissenschaft hat aus den Fehlschlägen extrem viel gelernt. Das hat zu neuen Ansätzen für Medikamente geführt. Und ich hoffe natürlich, dass sich die Erwartungen erfüllen, die wir bei unserem Vivoryon-Wirkstoff haben. (mz)