Giftgasfabrik der Nazis Giftgasfabrik der Nazis: Tickt unter ehemaliger Giftgasfabrik eine Zeitbombe?

Halle (Saale) - 35 Jahre lang, Tag für Tag war Erich Gadde an und auf dem Gelände der ehemaligen Giftgasfabrik Orgacid in Ammendorf unterwegs: Als Rangierleiter und stellvertretender Abteilungsleiter Transport des angrenzenden Plast-Werks war der heute 76-Jährige von 1959 bis 1995 dort tätig.
Deswegen interessiert den jetzigen Rentner die aktuelle Diskussion um die Giftgasfabrik der Nazis und ob dort noch Schadstoffe für Menschen gefährlich werden können.
Spätfolgen durch Giftproduktion?: Ehemaliger Mitarbeiter glaubt an mangelnden Aufklärungswillen
Für Gadde, der seit Jahren in Archiven dazu forscht, ist die Frage längst geklärt: „Der Aufklärungswille seitens der staatlichen Institutionen um die Relikte und Belastungen durch Orgacid hält sich bis zum heutigen Tage in Grenzen.“
In seinen Forschungen, die er schon mehrfach in Vorträgen und in einem Buch vorgestellt hat, kommt er zu dem Ergebnis, dass es zu keinem Zeitpunkt eine geordnete Sanierung gegeben hat.
Hat die SS zum Kriegsende 100 Giftfässerunter der Erde gelagert?
„Bis heute ist zum Beispiel die Abfüllanlage nicht lokalisiert worden“, erläutert er. Auch das verzweigte Leitungsnetz liege definitiv noch unter der Erde - welche Zerfallsstoffe des Nervengifts Lost, besser bekannt als Senfgas, noch im Erdreich wirken, sei deswegen eine offene Frage.
Ebenfalls nicht geklärt sei eine weitere Frage: Nach Angaben eines Zeitzeugen, über dessen Angaben die Mitteldeutsche Zeitung bereits 1991 berichtete, soll die SS zum Kriegsende 100 Giftfässer „unter dem Umsetzer, etwa 150 Meter vom Haupteingang entfernt“, vergraben haben.
Daran dürfe keine Luft kommen, sonst gebe es eine Umweltkatastrophe. „Aber es ist unklar, welcher Haupteingang gemeint ist und welcher Umsetzer“, sagt Gadde, der im Verein „Sachzeugen der chemischen Industrie“ aktiv ist.
Hunderte Tonnen Senfgas während des Zweiten Weltkriegs produziert
26.000 Tonnen Senfgas sind nach den Recherchen Gaddes während des Zweiten Weltkriegs in Ammendorf produziert worden. Schon 1895 sei der Betrieb zur Produktion von Pottasche als Chemische Fabrik Buckau gegründet worden, einer 100-prozentige Tochter der Goldschmidt Degussa AG in Essen. Der Name Buckau rühre daher, dass ein Werk in Buckau bei Magdeburg abgebrannt war und dieses hier in Halle neu aufgebaut wurde, erläutert Gadde.
„Unter dem Decknamen Orgacid wurde das Werk dann ab 1935 aufgebaut. Die Produktion von Senfgas begann 1938“, so der Hobbyforscher.
Senfgas wurde als „Zäh-Lost“ für besonders perfide Angriffe produziert
Das Senfgas, das Haut, Schleimhäute und Augen angreift, wurde unter anderem im Bomben und Granate gefüllt, aber auch als „Zäh-Lost“ für besonders perfide Angriffe produziert: Durch den Zusatz von Kautschuk und Wachs wurde das Nervengift in eine klebrige Masse eingebunden, die weitflächig auf feindlichem Gelände verteilt wurde. Das Gift klebte dann an Schuhen und Reifen.
Die grausamen Mixturen indes waren genau das, was die Nationalsozialisten favorisierten: Deswegen wurde das Orgacid-Werk 1942 als „Kriegsmusterbetrieb“ ausgezeichnet. Über 500 ausländische Fremdarbeiter und Kriegsgefangene sollen in dem Werk mit den unterirdischen Produktionsanlagen beschäftigt worden sein, so Gadde.
Gitftgas-Produktion in Ammendorf: Akten von damals sind verschwunden
Am 13. April 1945 sollen nach seinen Recherchen die Arbeiten in der Giftgasfabrik eingestellt worden sein - der Grund waren Tieffliegerangriffe und Panzeralarm. Jedoch erst sechs Tage später konnten amerikanische Soldaten das Werk besetzen.
Das Problem: „Eine Spezialgruppe der US-Armee hat Akten und Pläne beschlagnahmt und einige ausgewählte Apparaturen mitgenommen. Wo die Akten sind, ist unklar“, berichtet Gadde aus Archivunterlagen.
Ob die russischen Soldaten, die im August 1945 die Sprengung der Anlagen veranlassten, Leitungen und Vorratsbehälter geleert haben, sei ebenfalls eine offene Frage. Fest stehe aber, dass die NVA 1958 noch 1958 rund 20 Tonnen des Nervengifts geborgen habe.
Tickt unter der Erde in Ammendorf eine Zeitbombe weiter?
Zu DDR-Zeiten wurde eine 50-jährige Sperrung des Geländes empfohlen - „und 1984 der Bau einer Tapetenfabrik abgelehnt, da das Areal kampfmittelbelastet sei.“ Nach der Wende sei dann in den 1990er Jahren eine kostenintensive Sanierung geplant gewesen. „Aber man ist heute in die Verschleierung übergegangen“, sagt Gadde, der bis 1990 selbst die starken Ausgasungen auf dem Gelände gerochen hat.
Damit sei Schluss gewesen, nachdem das Areal mit einer dicken Schicht Erde abgedeckt worden sei. Doch unter der Erde tickt möglicherweise eine Zeitbombe weiter.
„Bodenwäsche“ ist möglich - kostet aber viel Geld
Dabei seien andere Kampfmittelfabriken in Deutschland einer großflächigen Bodenwäsche unterzogen worden, weiß der Hallenser. Das sei möglich, koste aber viel Geld.
„Ein vollständige Bodenwäsche wurde beispielsweise schon in den 80er Jahren vom Westberliner Senat für das Areal eines Ablegers der Orgacid-Werke im Stadtteil Haselhorst durchgeführt worden“, weiß Gadde. „Wir sind der nachfolgenden Generation verpflichtet“, meint der Rentner. Deswegen sei auch in Ammendorf noch einiges zu tun.
››Vortrag „Neues zur Geschichte der Orgacid-Fabrik“ mit Erich Gadde am 15. November um 17 Uhr im Hörsaal 7 der Hochschule Merseburg (mz)

