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Gerichtsmedizin Gerichtsmedizin: Bei Anruf Leiche

Von MARGIT BOECKH 17.09.2010, 16:37

HALLE/MZ. - Es wird so sein wie all die Jahre: Ein Anruf eine Leiche - der unklare Tod. Ihr Einsatz, Professor Kleiber! Dann wird der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg aus seinem Büro in dem ehrwürdigen Backsteinbau am Franzosenweg die zwei Treppen runtersteigen in den Sektionssaal und an die Arbeit gehen. Alles wie immer - nur, dass es zum letzten Mal ist. "Seine" letzte Leiche. Ab 1. Oktober ist der langjährige Instituts-Chef im Ruhestand. Endgültig. Über die übliche Emeritierung mit 65 hinaus war er geblieben - auf Wunsch der Uni, bis ein Nachfolger gefunden war.

Kleiber in Rente? Kaum zu glauben, wenn man ihn erlebt. Kompakte fast zwei Meter, ungebärdige graue Locken auf dem Charakterkopf. Immer flink zwischen Arbeitszimmern mit ersten gepackten Kisten und den Institutstreppen und -räumen zugange.

Sonorer Sprachduktus mit humorigem Einschlag. Keine Spur professoral abgeklärt, der Mann. Beim heiteren Beruferaten hätte man es jedenfalls schwer, zu seiner Person die Profession zu finden. Oder ist jemand wie er gerade deshalb so lebenszugewandt, weil sein Job ihn in all den Jahren über die Toten zu fast allen nur denkbaren menschlichen Abgründen führte? Und weil er ihnen ihre Geheimnisse mit allen Mitteln sei ner Wissenschaft entlockt hat?

Noch sind es ein paar Tage bis zum Abschied. Bis dahin stehen wohl noch ein paar Sektionen an im halleschen Institut. Hierher kommen schließlich alle Verstorbenen aus dem südlichen Sachsen-Anhalt, deren Todesursache ungeklärt ist. Um die vierhundert sind das in einem Jahr.

Auch heute, an diesem sonnigen Septembertag, wartet so ein Fall im Sektionssaal. Wie immer hat der Professor im Vorraum den grünen Kittel übergestreift, sich sorgfältig desinfiziert. Es herrscht ruhige Arbeitsatmosphäre. Helles, nicht grelles Licht. Die drei parallel angeordneten Seziertische aus Edelstahl in leichter Schräge zum Fußende geneigt. Eine ausgeklügelte Klimaanlage, die Gerüche zu Boden drückt (ein Segen!).

Der Sektionsgehilfe hat den Toten vorbereitet. Das ist ein Mann Mitte 50. Nichts Sensationelles. Kein Verdacht auf Mord, keine verweste, mit Maden behaftete Wasserleiche, kein Selbstmörder. Ein "sauberer" Toter, während einer Operation verstorben. Warum, das soll nun geklärt werden. Außer dem Professor ist noch ein weiterer Mediziner zugegen. Das ist Vorschrift. Genauso wie der Ablauf der Sektion. Die folgt strengen, fast liturgischen Regeln. Die äußere Leichenschau, die Öffnung mit einem Y- oder einem T-Schnitt, die Begutachtung der inneren Organe, die Entnahme von Proben fürs Labor. Sorgfältig gewaschen und vernäht, kommt der Tote dann bis zur Bestattung ins Kühlfach. "Der würdige Umgang, die Achtung vor dem wie auch immer verstorbenen Menschen, das gehört für uns ganz selbstverständlich zum Ethos", sagt Manfred Kleiber.

Im halleschen Institut ist der Kühlraum mit dem wandhohen Stahlschrank ganz unten im Keller. Zu erreichen mit dem Fahrstuhl, der seit mehr als acht Jahrzehnten in Dienst ist. "Kommt schon mal vor, dass man mit dem Klienten stecken bleibt", stellt der Professor beim Runterfahren ganz sachlich fest. Ist eben so.

Der unter Denkmalschutz stehende Institutsbau stammt immerhin von 1903 und verströmt ganz passend zu seiner Funktion einen stellenweise geradezu morbiden Charme. Doch hier unten ist ebenso wie im Sektionssaal und in den Labors alles auf Hightech-Stand. Der Tote von vorhin, in ein blitzsauberes Leintuch gehüllt, liegt in einem der neun Kühlfächer. Übrigens keineswegs mit dem berühmten Zettel am großen Zeh, sondern mit einem beigelegten DIN A4-Blatt, auf dem seine Daten vermerkt sind. Den Zehenzettel gibt es allenfalls noch im Krimi.

Wobei: Alleine aus dem Berufsleben von Manfred Kleiber ließe sich ganz sicher so manches spannungsgeladene Drehbuch stricken. "Womöglich noch gruseliger und unglaublicher als das, was man im Fernsehen so sieht", wie Kleiber versichert. "Was sich im Leben so zuträgt, wozu Menschen fähig sind, das übertrifft die Phantasie. Da gibt es kaum etwas, was ich nicht schon erlebt habe", sagt der Mann, der schon Tausenden Toten die Geschichte ihres Sterbens entlocken konnte.

Über all diese tiefen, oft unglaublich grauenvollen Einblicke in menschliche Abgründe nicht zum Zyniker zu werden, dazu bedarf es wohl einer starken, empathiefähigen und menschenzugewandten Persönlichkeit, wie es Manfred Kleiber ganz offensichtlich ist.

Er hat wohl selbst zuviel erlebt und überstanden. Denn auch der Lebensweg des Manfred Kleiber ist zumindest streckenweise allemal gut für eine Story mit Thriller-Potential. Da waren die Bomben, die Trümmer. Die endlos todesbangen Stunden in jenem Februar '45, verschüttet im Keller des zerbombten Vaterhauses in Cottbus. Die Flucht an der Hand der Mutter nach Halle. Dort endlich der Unterschlupf bei Verwandten. Drangvolle Enge - fünf Frauen, ein Dutzend Kinder in einem kleinen Haus. "Ich war ein Steppke", erinnert sich der am 13. Oktober 1941 Geborene, "aber all das ist immer noch gegenwärtig wie heute." Genau so wie die weißen Zettel auf den Straßen: Bedingungslose Kapitulation! Sonst Vernichtung! "Graf Luckner und den anderen Besonnenen, habe ich mein Leben zu verdanken", ist er sich bis heute sicher.

Dann kamen die Russen, der Vater aus Kriegsgefangenschaft. Der starb, als Manfred erst 17 war. Die Mutter hat beide durchgebracht, mit Heimarbeit, irgendwie. Der Junge sollte es besser haben. Abi, Studium - schwierig nicht nur materiell, sondern vor allem wegen der Ideologie. Dass der Prokuristen-Vater sogar in der SED war, weil er der Propaganda vom Friedens-Alleinvertretungsanspruch gegenüber den "kapitalistischen Kriegstreibern" glaubte, half da auch nicht. Herkunft "bürgerlich" - das war damals allemal ein Karrierehemmer.

Er hat es letztlich trotzdem geschafft. Selbst das begehrte Medizin-Studium konnte er absolvieren, wenn auch mit abgelehntem Stipendium ("nicht Arbeiterklasse!"). Dass aus Manfred Kleiber dann der renommierte Rechtsmediziner wurde, war eher Zufall, einer fehlenden Assistenten-Stelle in der eigentlich gewünschten Kinderheilkunde geschuldet. Und jenem "charismatischen Professor", der ihm nachhaltig die Vorzüge des Außenseiter-Fachs beibrachte und ihn an das Institut für Rechtsmedizin holte.

Kleiber hätte sich dort einrichten können - durchgängig bis zur Rente. Wäre da nicht das wachsende Unbehagen gewesen gegenüber diesem janusköpfigen Sozialisten-Staat, dessen Widersprüche schon der Student kritisch hinterfragte. "Ich, wie die meisten im Freundeskreis, war nicht ablehnend gegenüber der Grundidee, aber immer wacher in der Ablehnung des Staates und seiner Auswüchse."

Neben Drangsalierungen im privaten Umfeld wie etwa der Verfolgung seines Künstlerfreundes Wasja Götze wegen einer "illegalen Ausstellung" wurde vor allem die blutige Niederschlagung des Prager Frühlings, die Kleiber vor Ort erlebte, zum Fixpunkt für den Drang "Ich musste raus". Im gleichnamigen Buch des Journalisten Constantin Hoffmann ist auch Kleibers Fluchtgeschichte festgehalten. Unglaublich, filmreif war die ganze Sache und doch die pure Wahrheit: Im Kofferraum eines Mercedes zusammengekrümmt gelangte der frisch gebackene Doktor in den Westen. Einen der neblig stillen Tage in der "toten Jahreszeit" zwischen Weihnachten und Neujahr hatte er im Hinblick auf möglicherweise laxere Kontrollen dafür ausgesucht. Bessere Chancen vor Entdeckung. Und es hat geklappt!

Bald fand er eine Anstellung am renommierten Hamburger Uni-Klinikum Eppendorf. Und hatte dort aufregende Fälle "auf dem Tisch". Den Reeder aus dem Hanseaten-Adel, der peinlicherweise in einem Bordell verstarb. Den Berufsverbrecher P., der mit einer eingeschmuggelten Pistole vor Gericht erst den Staatsanwalt, dann seine Frau und schließlich sich selbst erschoss. Schlagzeilenträchtig auch der Ex-Boxer, der sich auf der Transitstrecke nach Westberlin verbotenerweise mit Verwandten traf, von der Stasi verhört wurde und dabei starb. Der rief dann als "Der Tote an der Grenze" selbst die große Politik bis hin zu Strauss auf den Plan.

Dann kam die Wende und 1992 überraschend ein Ruf für den ausgewiesenen Experten an sein "altes Institut" nach Halle. Kleiber wollte zunächst nur aushelfen, ein, zwei Jahre allenfalls. Er ist geblieben. Wohl auch, weil es seiner Frau, aus der Eifel stammend, so ausnehmend gut in der alten Saalestadt gefällt. Und weil Freunde hier sind, neue und alte. Wie der Künstler Wasja Götze. Der hat ihm ein großes Bild geschenkt. Es hängt im Treppenhaus des Instituts. "Suchen - irren - finden" heißt es. Eine allegorische Darstellung der Rechtsmedizin. Der scheidende Professor hat es der Uni geschenkt. Vielleicht lässt es sein Nachfolger ja hängen. Kein schlechter Wegweiser für diesen ungewöhnlichen, anregenden, anstrengenden und wichtigen Job.