1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halle
  6. >
  7. Engagement für Flüchtlinge in Halle: Engagement für Flüchtlinge in Halle: Am Küchentisch Deutsch lernen

Engagement für Flüchtlinge in Halle Engagement für Flüchtlinge in Halle: Am Küchentisch Deutsch lernen

Von Katrin Löwe 28.10.2015, 12:23
Annette Hanitzsch (links) und Irmgard Helsper (Mitte) üben mit Najma, Soghra und Zarghone am heimischen Küchentisch Deutsch.
Annette Hanitzsch (links) und Irmgard Helsper (Mitte) üben mit Najma, Soghra und Zarghone am heimischen Küchentisch Deutsch. Jens Schlüter Lizenz

Halle (Saale) - Da ist dieser Moment, in dem die Heiterkeit ausbricht. Der Moment, in dem die 30-jährige Soghra aus Afghanistan von ihren Übungsblättern mit den deutschen Namen von Farben aufblickt, auf den Küchentisch schaut und es beim Anblick des leckeren Gebäcks plötzlich aus ihr herausplatzt: „Der Kuchen ist braun.“ Die Daumen der Deutschen gehen lächelnd nach oben, die Freude unter den Flüchtlingsfrauen ist spürbar.

Es sind drei bis fünf Monate nach ihrer Ankunft nicht viele Worte, die sie in der für sie noch fremden Sprache sagen können. Aber es werden ständig mehr - auch dank der ehrenamtlichen Hilfe zweier Hallenserinnen, die seit September einmal pro Woche mit ihnen üben.

Aufgeschlossenheit beeindruckt

„Ihr Wunsch, Deutsch zu lernen ist gigantisch“, sagt Irmgard Helsper. Er beeindrucke sie ebenso wie die Aufgeschlossenheit und auch die Momente der Fröhlichkeit, die sich die jungen Frauen aus Afghanistan bewahrt haben. Trotz ihrer Geschichte, der Flucht aus einem vom Krieg verwüsteten Land - das schwebt über diesen Worten. Auch wenn es eine Geschichte ist, von der Helsper und Annette Hanitzsch aufgrund der Sprachbarrieren im Detail fast nichts wissen. „Es reicht aus, wenn man sich das vorstellt“, sagen sie. Den Rest werde die Zeit bringen.

Dass sie Flüchtlingen helfen möchten, stand für die beiden Hallenserinnen früh fest. Irmgard Helsper erinnert vieles von dem, was sie heute liest und hört, auch an die eigene Geschichte als Sechsjährige, wie sie sagt. Ihre Familie floh 1959 aus der DDR - in ein überfülltes Notaufnahmelager in Marienfelde, mit bürokratischen Tippel-Tappel-Touren, drei weiteren Lagern in Regionen, die sie nicht selbst wählen konnten. Und dem Neid anderer, als die Familie in Nordrhein-Westfalen in eine der begehrten Sozialwohnungen zog. „Nachbarn fanden es nicht so toll, dass da Flüchtlinge kamen.“

Mehrfach als Helfer registriert

Heute folgte der Schritt vom theoretischen „man muss helfen“ zum praktischen „wir tun etwas“, als die Tausenden nicht mehr nur ein Thema am Mittelmeer waren, sondern an den deutschen Grenzen standen, sagen Helsper und Hanitzsch. Sie ließen sich in die Helfer-Liste bei der Diakonie aufnehmen, die in Zusammenarbeit mit der MZ entsteht. Sie registrierten sich bei der Freiwilligenagentur Halle, besuchten Workshops - unter anderem zur Sprachbegleitung.

Fragen und Zweifel

Dabei haben sich die Damen durchaus Fragen gestellt, hatten Zweifel. „Ich kann kein Englisch“, sagt Hanitzsch, 70 Jahre alt. Die Sprache der Flüchtlinge erst recht nicht. Wird es auch so klappen? Bin ich zu alt, um helfen zu können? Beide Frauen waren früher im Management, haben keine Lehrerfahrung. Die Zweifel sind inzwischen verschwunden - auch mit Hilfe der Workshops, zweier Bücher zum Thema „Deutsch als Fremdsprache“ und des Übungsmaterials aus dem Internet. „Wir versuchen ja nicht Goethe zu lesen, sondern schauen, was die Frauen im Alltag gebrauchen können“, sagt Hanitzsch. Und dass sie eine Ahnung davon bekommen, wie Deutschland funktioniert. Da ist etwa Pünktlichkeit - nicht überall so selbstverständlich. Wer mit Behörden konfrontiert ist oder Arbeit sucht, dem hilft aber das Wissen, dass „dieses Land anders tickt“.

Seit fünf Wochen - kurz nach der Einladung zum Kennenlernen in einer Gemeinschaftsunterkunft - treffen sich Hanitzsch und Helsper mit Soghra, Najma (25) und Zarghone (23). Nicht irgendwo, sondern in der Küche der Hallenserinnen. Sie fanden es praktischer, die Frauen zu sich zu holen als Schlüssel für fremde Räume zu organisieren.

Rassismus erlebt

Erstaunt hat sie aber manche Reaktion im Bekanntenkreis. Sie hätten Rassismus auch bei Menschen erlebt, „die es eigentlich besser wissen müssten“, sagen die Frauen. Plötzlich hieß es „ihr dürft die aber nicht nach Hause einladen“. Warum? Eine Antwort habe sie nicht erhalten, sagt Helsper. Einmal kam die Frage, ob sie nicht Angst hätten, dass ihr Haus ausgeräumt wird. „Warum“, fragt Hanitzsch, „sollte ich so etwas unterstellen?“

Im Haus der Hallenserinnen ist die Stimmung auch bei diesem Treffen mit den afghanischen Frauen gelöst. Zum ersten Mal stehen nicht nur Übungsblätter mit bunten Bildern auf dem Programm - bei Tee und Kuchen. Die Frauen laden zur Hausführung. So lassen sich Worte wie Handtuch, Dusche, Bett oder Bücherregal praktisch üben - und die Farben gleich mit. Manchmal hat die Verständigung dabei mehr mit Intuition als mit Sprache zu tun - als Najma später erneut die Zimmer anspricht, ahnt Helsper nur, dass es um eine Liste mit Begriffen zum Lernen geht. Aber es funktioniert - auch zur Freude der jungen Frauen. Die Hallenserinnen seien ihre Lehrer, sagt Najma, die sich bisher ohne Deutschkurs selbst viel beibringt. Eine Syrerin, die sie auch betreuen, lerne über ein Handy-Sprachprogramm, erzählt Hanitzsch. „Das ist schon erstaunlich.“

Veränderung aktiv mitgestalten

Wer die Veränderungen, vor denen Deutschland steht, aktiv mitgestalte, sehe sie nicht mit Angst, glauben die Frauen. „Und wenn ich sehe, wie verbiestert hier manche Menschen sind, ist es doch schön, wenn man etwas Fröhliches und Junges um sich hat“, sagt Helsper. Das haben die beiden Frauen - bei ihrer Hilfe für die afghanischen Flüchtlinge und die Syrerin, zudem durch eine Lesepatenschaft für ein siebenjähriges Roma-Mädchen.

Die Hallenserinnen glauben nicht, dass sie Rechtsextreme umstimmen. Sie hoffen es bei denen, die unsicher sind, ob sie Flüchtlingen helfen können. „Wir sind nicht dafür verantwortlich, dass sie perfekt Deutsch können. Aber wir können ein Gefühl vermitteln, dass sie willkommen sind.“ (mz)

„Willkommen in Sachsen-Anhalt“

Die Mitteldeutsche Zeitung organisiert mit der Diakonie Mitteldeutschland die Aktion „Willkommen in Sachsen-Anhalt“ und ruft Leser auf, Flüchtlingen zu helfen. Rund 140 Angebote gibt es bisher, von der kostenlosen Teilnahme am Reitunterricht im Saalekreis über Lesepatenschaften oder eine Laufgruppe in Halle bis hin zum Besuch von kulturellen Veranstaltungen.

Ihre Hilfsangebote erreichen uns auf folgendem Weg:

Per Mail: [email protected]. Bitte schreiben Sie uns Ihren Namen, kurz Ihr Angebot (zum Beispiel Kochen mit Flüchtlingen), Ihren Wohnort, Ihre Telefonnummer und Ihre Mail-Adresse.

Per Telefon: täglich zwischen 13 und 16 Uhr unter 0345/565 4240 (Bitte beachten Sie: Am Wochenende ist diese Nummer nicht erreichbar.)