Ende zweier Dynastien Einzelhandel in Halle: Möbelgeschäfte Reinecke & Andag sowie Kunert schließen

Halle (Saale) - „Wir schließen! Alles muss raus!“ - Die beiden letzten traditionsreichen Möbel-Einzelhändler Halles geben auf: das „Einrichtungshaus Reinicke & Andag“ direkt am Markt und „Möbel-Kunert“ am Steintor. Die beiden Inhaber, Thomas Kunert und Hans-Peter Reinicke, sind seit Jahrzehnten Kollegen und als Händler auch Konkurrenten in der Innenstadt. So wie schon ihre Väter, Großväter und Urgroßväter!
In jeweils vierter Generation haben beide ihr Familienunternehmen geführt, einen Nachfolger aber haben beide nicht gefunden. Und nun schließen sie fast am gleichen Tag ihre Geschäfte, die bei vielen Hallensern noch immer klangvolle Namen besitzen.
Denn die Geschäfte gehen seit Jahren schlecht. Die sanierungsbedürftigen Häuser, wie auch die Angebote selbst wirken in Zeiten der gigantischen Möbelmärkte auf der Grünen Wiese und des Internethandels aus der Zeit gefallen.
Gebäudekomplex ist verkauft
Nach 129 Jahren hat Ende vergangener Woche bei „Reinicke & Andag“ am Markt der Ausverkauf auf drei Etagen begonnen, voraussichtlich bis Mitte Juli. „Eigentlich wollte ich nur bis zum 125. Jubiläum durchhalten. Nun sind es sogar vier Jahre länger geworden“, sagt Klaus-Peter Reinicke. Der Gebäudekomplex an der Großen Klausstraße 22, einst die Möbelfabrik Reinicke & Andag, ist schon verkauft. Wahrscheinlich entstehen in dem denkmalgeschützten Gebäude Wohnungen oder Büroräume.
Für Klaus-Peter Reinicke ist der Verkauf ein harter Schritt. Sein Urgroßvater, Hermann Reinicke, begann um das Jahr 1887 in der Brüderstraße gemeinsam mit seinem Geschäftspartner, dem Polsterer Friedrich Andag, eine Tischlerei aufzubauen. 1923 wurde die Möbelfabrik in der Großen Klausstraße 22 neu gebaut. Bis zu 120 Mitarbeiter schreinerten dort unter anderem in den 1960er Jahren komplette Verwaltungs- und Laboreinrichtungen für die Chemieunternehmen der Region, aber auch für die hallesche Universität.
„Auch in der DDR war die Firma selbstständig. Aber es wurde immer schwieriger, an Material zu kommen“, erinnert sich Klaus-Peter Reinicke. Auch deshalb musste 1986 die eigene Möbelproduktion eingestellt werden. Im selben Jahr hat der Hallenser das elterliche Geschäft übernommen, in das er schon 1966 eingestiegen war.
Laut Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau ist im Bereich Handel, Einrichtung, und Wohnen die Verkaufsfläche in Halle während der vergangenen Jahre gestiegen: von rund 48 000 auf 58 000 Quadratmeter in den Jahren 2003 bis 2013. Damals wurden in Halle 78 Unternehmen geführt. Den größten Anteil an der Verkaufsfläche hat te damals das Wohnzentrum Lührmann, das allein an der Mansfelder Straße über eine Verkaufsfläche von 9 650 Quadratmetern verfügt. Der SB-Möbel-Boss-Markt wurde mit 3 500 Quadratmetern angegeben, Reinicke & Andag mit 1.300 Quadratmetern.
Das im Auftrag der Kommune 2013 angefertigte Einzelhandels- und Zentrenkonzept für Halle hat erfasst, dass die sogenannte Zentralitäts-Kennziffer für die Branche in Halle unter dem Wert 1 liegt. Das bedeutet, dass mehr Hallenser ihre Möbel und Einrichtungen außerhalb der Stadt kaufen als in der Stadt. Insofern wird der Möbel-Handel - nach den Baumärkten- in der Studie als Branche mit den besten Abstazsetiegrungen eingeordnet. (mifa)
Die Wende brachte zunächst neuen geschäftlichen Aufschwung: „1990 habe ich beim Rat der Stadt die Einfuhrgenehmigung geholt, wir waren die ersten in Halle, die Möbel aus dem Westen verkauften“, erinnert sich Klaus-Peter Reinicke. Damals habe man Wartezeiten an die Kunden vor dem Laden vergeben müssen. Mit 42 Mitarbeitern ist Reinicke & Andag 1990 gestartet. Zuletzt aber standen nur noch er und seine Frau im Laden.
So geht es auch Thomas Kunert und seiner Frau Uta, die in der Großen Steinstraße den Ausverkauf schon beendet haben. „Wenn man in der Innenstadt seit der Wende 25 Jahre durchgehalten hat, kann man nicht alles falsch gemacht haben“, sagt Kunert. Auch er hatte 1986 das Geschäft seiner Eltern übernommen, in dem er seit 1979 die Geschäfte geführt hatte. Die Möbeldynastie wurde ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Tischlerei begründet.
In 14.000 Wohnungen geliefert
Kunerts Eltern eröffneten 1954 ein Geschäft in der oberen Großen Steinstraße. Als privater Kommissionshandel überlebte der Familienbetrieb die DDR. Man war auf die Zuteilungen des staatlichen Handels angewiesen, was in der Mangelgesellschaft nicht immer einfach war. Für die Kunden schon gar nicht, die mitunter lange auf ihre Couch warten mussten. „Wir haben in ganz Halle geliefert. Ich war bis heute wohl in ungefähr 14.000 Wohnungen“, sagt Thomas Kunert.
Die Wende überstanden hat Möbel-Kunert in einer echten Angebotsnische, die man schon in der DDR ausfüllte: kleinere Polstermöbel für kleinere Wohnungen, abgestimmt auf die Bedürfnisse einer schon älteren Klientel.
Wegfall der Laufkundschaft
Eigentlich wollte Thomas Kunert den Laden noch bis zur Rente führen, doch im Frühjahr hat sich der 61-Jährige schweren Herzens entschieden, schon jetzt Schluss zu machen. Dazu habe auch das Umfeld beigetragen. „Das Haus und unsere angemieteten Räume müssten dringend saniert werden.
Zudem haben der jüngste Ausbau des Steintors und dadurch ein Wegfall der Laufkundschaft für enorme Umsatzeinbruch gesorgt“, sagt Kunert. In der oberen Großen Steinstraße stünden derzeit zwölf große Läden leer! Und der Ausbau in der Großen Steinstraße ginge ja weiter. Den Kampf ums Überleben habe man sich unter diesen Bedingungen nicht antun wollen, so Kunert, der weiter als Sachverständiger für Polstermöbel tätig ist. (mz)