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"Eher gefährdet als gefährlich" "Eher gefährdet als gefährlich": Chefarzt in Halle zieht Bilanz zu Arbeit mit Flüchtlingen

Von Bärbel Böttcher 20.12.2015, 19:31
Chefarzt Hendrik Liedtke ist seit 20 Jahren regelmäßig in Afrika und Asien unterwegs und arbeitet dort im Urlaub unentgeltlich als Resortdoc. Zudem war er Anfang 2005 nach dem verheerenden Tsunami in Südost-Asien in einem internationalen Team auf den Malediven tätig.
Chefarzt Hendrik Liedtke ist seit 20 Jahren regelmäßig in Afrika und Asien unterwegs und arbeitet dort im Urlaub unentgeltlich als Resortdoc. Zudem war er Anfang 2005 nach dem verheerenden Tsunami in Südost-Asien in einem internationalen Team auf den Malediven tätig. Günter Bauer Lizenz

Halle (Saale) - Zunächst fürchteten die Ärzte, in die Knie zu gehen. Als Anfang Oktober weit mehr als 500 Flüchtlinge auf einmal ins ehemalige Maritim-Hotel einzogen, musste improvisiert werden. „Und zwar in einem Ausmaß, das so nicht vorstellbar war“, sagt Dr. Hendrik Liedtke, Chefarzt der Klinik für Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie des Krankenhauses St. Elisabeth und St. Barbara in Halle. Der Mediziner leitet das Ärzte-Team, das bei den Flüchtlingen die Erstuntersuchungen vornimmt. Aber er bezieht da alle ein - Polizei, Rettungsdienst, Malteser und Stadtbedienstete.

Geburtstag 1. Januar

In den Anfangswirren, so sagt Liedtke, sei schon einmal vergessen worden, die Papiere der Flüchtlinge mit dem Stempel zu versehen, der dokumentiert, dass die Erstuntersuchung stattgefunden hat. Die Betreuer im Maritim hätten dann nicht gewusst, wer schon untersucht worden ist und wer nicht. „Da mussten wir noch einmal von vorn anfangen.“ Schmunzelnd erzählt er, dass sich die Mediziner nach ein paar Tagen gewundert hätten, weil der Geburtstag aller Syrer auf den 1. Januar fällt. Schließlich sei klar geworden, dass in den syrischen Pässen nur das Geburtsjahr vermerkt wird.

Und dann war da noch die Sache mit den Namen. „Wenn bei uns der Name Heinz Müller in eine Krankenakte eingetragen wird, dann ist klar, dass er männlich und wahrscheinlich älter als 50 Jahre ist“, erzählt Liedtke. Wenn aber jemand Gyley Appa heiße, sei unklar, ob das weiblich oder männlich, ob das Baby oder Greis sei. Höllisch aufgepasst werden musste zudem, dass es keine Verwechslungen gibt, weil im Arabischen sehr viele Vor- und auch Familiennamen mit „A“ anfangen und ganz ähnlich klingen.

Jetzt, zehn Wochen später, läuft alles in ganz geordneten Bahnen. Zurzeit ziehen die Ärzte des Elisabeth-Krankenhauses mit der erforderlichen medizinischen Ausrüstung ins Maritim - das offiziell Landesaufnahmeeinrichtung (LAE) heißt. „Wenn das abgeschlossen ist, dann haben wir dort eine kompakte hochleistungsfähige Einheit zur Versorgung von Flüchtlingen“, sagt Liedtke. Diese müssen dann zur Erstuntersuchung nicht mehr ins Elisabethkrankenhaus transportiert werden. Es sei ein Dolmetscher eingestellt worden. „Hilfe erhalten wir zudem von syrischen Ärzten, die uns bei der Untersuchung angesprochen haben“, sagt Liedtke.

Lesen sie auf der nächsten Seite über die Angst, dass massenweise Infektionskrankheiten eingeschleppt werden.

Reichlich 2.000 Flüchtlinge wurden bisher untersucht. Beim Röntgen sei bis Mitte Dezember in lediglich einem Fall eine Tuberkulose festgestellt worden. Bei den körperlichen Untersuchungen sei nichts vorgekommen, was nicht schnell zu behandeln gewesen wäre - Läuse oder Krätze beispielsweise. Die Angst, dass massenweise Infektionskrankheiten eingeschleppt werden, sei unberechtigt. Nach Erkenntnissen des Berliner Robert-Koch-Institutes ist das übrigens bundesweit so.

Liedtke sagt: „Was Infektionskrankheiten angeht, sind die Flüchtlinge eher gefährdet als gefährlich.“ Er denkt dabei vor allem an die Kinder, die kurz vor oder nach Ausbruch des Krieges in Syrien zur Welt gekommen sind.

Diese seien zum großen Teil ungeimpft und wären durch einen Masernausbruch in einer Massenunterkunft wie in der LAE akut gefährdet gewesen. „Deshalb hatte der Impfschutz der Flüchtlinge vor landläufigen Infektionskrankheiten, die man hier bekommt, absolute Priorität“, unterstreicht Liedtke.

Was dem Arzt große Sorge bereitet, ist die psychische Gesundheit der Ankommenden. „Ihre Schicksale machen mitunter sprachlos“, sagt er. Jeder, der ein Smartphone besitze, habe darauf seine ganz persönlichen Gewaltvideos gespeichert. „Wenn man Augenzeuge wird, wie die Nachbarn erschossen werden, dann bleibt das nicht ohne Folgen“, betont er und fügt hinzu: „In Europa würde jeder, der solchen entsetzlichen Gewaltverbrechen beiwohnt, sofort einen ganzen Stab von Seelsorgern zugeordnet bekommen.“ Im Moment würden sich die Flüchtlinge gegenseitig stützen. Dazu gehöre auch, dass sie sehr ausgelassen das Leben feiern. „Früher oder später“, so ist sich Liedtke sicher, „werden die Beschwerden durchbrechen.“

Der Arzt ist einer, der den Flüchtlingen so nah wie kaum jemand kommt. Er ist mit jungen Männern ins Gespräch gekommen, die hier sind, „weil sie sonst der Gefahr ausgesetzt gewesen wären, für irgendeine Miliz, egal ob IS, Al Nusra oder Assad-Truppen, in einem sinnlosen Gemetzel geopfert zu werden“, wie er sagt. Viele hätten ihm erzählt, sie würden gern für ihr Land kämpfen, sähen aber auf keiner Seite Erfolgsaussichten. Die Frontlinien würden selbst außenpolitische Experten nicht überblicken. Und Liedtke hält es für eine Vernunftleistung, dass sie sich der Rekrutierung durch irgendwelche Milizenführer entzogen haben.

„Über Menschen sprechen“

Er glaubt nicht, dass von diesen jungen Männern Gefahr ausgeht. Sicherlich müsse ihnen erklärt werden, was bei uns hier möglich sei und was nicht. Beispielsweise wenn es um die Rolle der Frau gehe. Aber da seien nicht alle über einen Kamm zu scheren. Der Mediziner wünscht sich, dass wir aufhören, großartige Unterscheidungen zu machen zwischen Ausländern und Deutschen, Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen. „Das bringst uns nicht weiter. Wir müssen anfangen über Menschen zu sprechen“, unterstreicht er. (mz)