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Ehemaliges Hotel Maritim Ehemaliges Hotel Maritim in Halle: So sieht es wirklich in der Flüchtlingsunterkunft aus

Von Ralf Böhme 18.03.2016, 08:26
Einblick in das ehemalige Maritim Hotel: Die Flüchtlinge gehen sehr pfleglich mit dem Interieur um.
Einblick in das ehemalige Maritim Hotel: Die Flüchtlinge gehen sehr pfleglich mit dem Interieur um. Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Wer schaukelt als nächster? Trubel im Buddelkasten am Riebeckplatz in Halle. Großvater Anwar, ein Installateur aus Syrien, spielt nebenan Ball mit dem Enkel. Sobald die Sonne scheint, verlassen die Flüchtlinge ihre Unterkunft im Maritim-Hotel. Dann spielt sich das Leben nicht mehr in der Erstaufnahme-Einrichtung, sondern draußen ab. Einheimische Passanten nehmen kaum Notiz. Zwischenfälle? Fehlanzeige. Mehrmals am Tage, erzählen Anwohner, rollt ein Streifenwagen vorbei. Das ist alles.

Wie aber sieht es drinnen aus, in der alten Vier-Sterne-Herberge? Ein halbes Jahr nach Ankunft der ersten Flüchtlinge schaut die MZ noch einmal vor Ort nach - dort, wo seit dem ersten Ansturm im Oktober mehr als 4.000 Männer, Frauen und Kinder angekommen sind. Dort, wo nach längst widerlegten Gerüchten angeblich Gewalt und Missbrauch an der Tagesordnung sein sollen. Dort, wo Asylbewerber - wie in sozialen Medien oft behauptet - den Luxus vergangener Tage ruinieren. Angesagt ist eine Visite vom Keller bis unter das Dach. Dabei soll keine Frage unter den Tisch fallen. Der Gastgeber ist einverstanden. Los geht es!

Die Lichtschranke jedenfalls funktioniert. Unversehrt wie ehedem öffnen sich die großen Glastüren. Dahinter werden Bewohner, Mitarbeiter und Besucher der Einrichtung kontrolliert. Das übernehmen Angestellte einer privaten Sicherheitsfirma. Wer keinen Hausausweis besitzt, trägt die Angaben zur Person in eine Liste ein. Während der Gast auf den ihm zugeteilten Begleiter wartet, schweift der Blick durch die Hotelhalle. Da schiebt gerade eine Angestellte gemächlich einen Wagen mit gefalteter Bettwäsche. Auf der Treppe sitzen drei Männer und sprechen leise in ihre Mobiltelefone. Die Hotelbar ist leer, gegenüber eine Tafel mit Kinderzeichnungen. Es wirkt ganz so, als ob das Haus nicht völlig ausgebucht sei.

600 Menschen in Spitzenzeiten

„Dieser Eindruck täuscht nicht“, sagt Aufnahmeleiter Dieter Schoof. In Spitzenzeiten haben hier 600 und mehr Menschen eine Zuflucht gefunden. Jetzt sind es weniger als ein Drittel. Nun kann nach und nach auf Zusatzbetten in den kleinen Zimmern verzichtet werden. Augenscheinlich haben die Räume durch die intensive Nutzung nicht gelitten. Weder Reste von Lagerfeuern noch demolierte Bad-Einrichtungen - die Befürchtungen besorgter Bürger haben sich nicht bewahrheitet. Ina Tiedemann von den Maltesern als Betreiberin der Unterkunft kann nur von einem einzigen häufigen Missverständnis berichten. Manche Menschen aus dem arabischen Raum werfen gebrauchtes Toilettenpapier nicht wie hier üblich ins Becken, sondern in den Papierkorb. „Doch da genügt meist ein Hinweis“, sagt sie.

Jeder zweite Flüchtling stammt aus den Bürgerkriegsgebieten in Syrien. Gegenwärtig treffen zweimal pro Woche neue Gruppen ein, nicht mehr nachts, sondern am Tage. Diese Neu-Hallenser kommen per Zug und Bus aus Bayern. Dort haben sie die Grenze überschritten und werden auf die Bundesländer verteilt. Ungefähr zwei Prozent muss Sachsen-Anhalt aufnehmen, so der Verteilschlüssel. Schoof spricht von einer Entspannung der Lage. „Inzwischen sind die Strukturen soweit geschaffen, die Abläufe professionell geordnet.“ Der Hausmeister kommt mit einem Werkzeugkasten entgegen. Es ist der Hausmeister, der laut Sprücheklopfern im Netz schon x-mal tot geschlagen worden sein soll. Der agile Mann in mittleren Jahren will sich dazu nicht mehr äußern, tippt sich nur an die Stirn.

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Der erste Weg führt zum kürzlich eingerichteten Waschsalon. Ehrenamtliche Helfer und Flüchtlinge betreiben ihn gemeinsam. Wer eine der Maschine nutzt, zahlt 1,50 Euro pro Ladung. Kunsthistorikern Amira, die einer Hochburg des Islamischen Staates im Irak entkommen ist, riecht an sauberen Kleidungsstücken. Sie sagt nichts, nur die Augen strahlen. Hinter ihr liegen eine Flucht über das Mittelmeer und Übernachtungen unter freiem Himmel auf dem Balkan.

Teppiche, offenkundig aus den 1990er Jahren, schlucken viele Geräusche auf den Etagen. Was auffällt: Die Bodenbeläge weisen keine Flecken auf. Auch Brandstellen, beispielsweise von Zigaretten, fallen nicht ins Auge. „Es gilt Rauchverbot, auch in den Zimmern“, so Schoof. Nur vereinzelt falle es den Ausländern schwer, das zu akzeptieren. Nachdem man ihnen aber erkläre, wie wichtig man hierzulande Brandschutz nehme, obsiege immer die Einsicht.

Androhung "zieht immer"

Notfalls bleibt als letztes Argument ein angedrohter Hausverweis. „Das zieht immer.“ Fast immer. Nur an einen einzigen ernsten Zwischenfall kann sich Schoof erinnern, „denn danach war die Aufregung im Haus wirklich groß“. Das mutmaßliche Delikt: Ehemann schlägt Ehefrau krankenhausreif. Klare Sache, es gilt deutsches Recht. Ohne Ausnahme, auch für Flüchtlinge. Nun sitzt der Mann in Untersuchungshaft.

Szenenwechsel: Erst Bankettsaal, jetzt ein straff organisiertes Verwaltungszentrum. Mobile Zwischenwände und neue Bürotechnik machen es möglich. „Ab hier geht niemand mehr verloren“, versichert Hauptfeldwebel Mike Müller von der Registratur. Auch ein Verwirrspiel mit mehreren Identitäten würde spätestens an dieser Stelle auffliegen. Von der Aufnahme mit Foto und Fingerabdruck über den Datenabgleich bis zur Ausgabe vorläufiger Ausweispapiere: Ausländerbehörde, Polizei, Bundeswehr, andere zivile Kräfte wie Arabisch-Dolmetscherin Ghada Abouanmar arbeiten Hand in Hand. Erst nach der Prozedur, die jeder Ankömmling durchläuft, gibt es den Anspruch auf ein Taschengeld entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen. Die Auszahlung muss quittiert werden. Etwa zehn Prozent, so die Erfahrung, können nicht lesen und schreiben.

Bedürftige, deren Sachen zerschlissen sind, erhalten Ersatz aus der Kleiderkammer. Spenden sorgen für Nachschub. Besonders gefragt sind Schuhe. Wer ein gutes Paar dann besitzt, spart nicht an der Pflege. Flüchtlinge aus dem Maritim, heißt es unter den Mitarbeitern des Hauses, kann man leicht an den blitzblank geputzten Schuhen erkennen.

Vorbei an gestapelten Partytischen und Türmen aus Polsterstühlen - hier entlang geht es zum Medizinischen Zentrum. Dort können bei Bedarf bis zu 200 Leute auf Herz und Nieren untersucht und mit Impfungen versorgt werden. Schoof verweist auf vier reservierte Räume - Anlaufpunkt für Jugendliche, die sich allein durchschlagen. Glücklicherweise ist das momentan die Ausnahme. Caritas, Jugend- und Sozialamt halten sich aber bereit. Der Anfang: ein Deutschkurs. Die Resonanz auf das verpflichtende Angebot: Kaum einer der Flüchtlinge verweigert sich. Nach Krieg und Elend suchten die meisten von ihnen nur eines, endlich ein Zuhause. Entsprechend pfleglich ist der Umgang mit ihrer ersten Adresse in Deutschland. Bislang nimmt das Objekt keinen Schaden. Schoof, der sich sogar eine Wiederaufnahme des Hotelbetriebs vorstellen kann, ist optimistisch: Mal gründlich durchlüften, frische Tischdecken und es könnte wieder losgehen! (mz)

Eine der Stationen ist die Registratur, danach gibt es die Hausausweise.
Eine der Stationen ist die Registratur, danach gibt es die Hausausweise.
Andreas Stedtler
Der Anfang der Integration: Der Deutsch-Kurs ist gut besucht.
Der Anfang der Integration: Der Deutsch-Kurs ist gut besucht.
Andreas Stedtler
Zusätzliche Betten erweitern die Aufnahmemöglichkeiten.
Zusätzliche Betten erweitern die Aufnahmemöglichkeiten.
Andreas Stedtler