Recht und Ordnung im Staate Honeckers DDR: Anette Göhre hat 40 Jahre lang als Polizistin gearbeitet

Halle (Saale) - Wie hat man eigentlich gelebt in der DDR? Dem langweiligsten Land der Welt, wie der ostdeutsche Schriftsteller Volker Braun sie eine seiner Figuren provozierend hat nennen lassen.
Abgesehen von den notwendigen Debatten über Stasi und Unterdrückung - viel ist nach ihrem Hinscheiden tatsächlich nicht mehr über die DDR gesprochen worden. Putzige ostalgische Schunkel-Shows gibt es freilich. Und diverse Ausstellungen.
Letztere sind gut gemeint und haben alle ein vergilbtes Paket IMI-Scheuerpulver zu bieten, eine Schachtel Zigaretten der Marke F 6 und, unverzichtbar, wenigstens ein Foto vom ostdeutschen „Volkswagen“, dem Trabant.
Erinnerungen an die DDR-Zeiten
Ansonsten? Schweigen im Walde. Wer im Osten lebte, hat seine Erinnerungen eingelegt wie saure Gürkchen. Haltbar, aber fest unter Verschluss. Gerade kurz nach der friedlichen Revolution, die alle nur „die Wende“ nennen, war die Unsicherheit groß. Mancher hatte seine Gründe, den Mund zu halten. Und andere dachten, es würde ihnen sowieso keiner zuhören.
Wie der Alltag im Osten wirklich lief
Auch die Politik hat sich kein Bein herausgerissen, um ein Gespräch zwischen den wiedervereinigten Brüdern und Schwestern in Gang zu bringen. Zum Beispiel über die durchaus spannende Frage, wie es wirklich lief, das Alltags- und Berufsleben im Staate Ulbrichts und Honeckers.
Nun macht sich eine Initiative stark dafür, gerade den unter dreißigjährigen Deutschen diesbezüglich die Augen zu öffnen - wenn sie denn hinsehen wollen.
Anette Göhre, die aus der Quedlinburger Gegend stammt und seit vielen Jahren in Halle lebt, fand einen Kommentar dazu in der Mitteldeutschen Zeitung interessant genug, um dem Autor des Textes zu schreiben: Nach 40 Jahren im Polizeidienst, erst in der DDR, dann in der Bundesrepublik, hätte sie vielleicht etwas beizutragen zum Thema.
Anette Göhre erzählt aus ihrem Leben als Polizistin
So sind wir zusammengekommen, haben Kaffee getrunken und miteinander geredet, schließlich hat Frau Göhre auch ihr Fotoalbum ausgepackt. Da sieht man sie einmal stolz und ein bisschen verlegen lächelnd in schmucker Volkspolizei-Uniform mit auf Hochglanz polierten Halbschuhen posieren. Das Bild hat sie damals eigens in einem Fotostudio machen lassen, zur Erinnerung an den Beginn ihres neuen Lebensabschnitts.
1967 war das, Anette Göhre war gerade mal 18 Jahre alt. Mit 14 hatte sie die Schule verlassen, nach Abschluss der achten Klasse. Ihr Vater begleitete sie zur Berufsberatung, das junge Mädchen wollte ja ein ordentliches Auskommen haben. Und Geld verdienen.
Mit Polizeiuniform im Standesamt
Also lernte sie Damen-Maßschneiderin in Ballenstedt, das machte ihr auch Spaß. 1969, als sie schon Polizistin war und einen Kollegen heiratete, hat sie noch einmal von ihrem ursprünglichen Beruf profitiert und sich selbst ein wunderschönes, weißes Brautkleid genäht.
Nach dem Schulabschluss hat Anette Göhre, die aus dem Harz stammt und seit langem in Halle lebt, den Beruf einer Damen-Maßschneiderin erlernt. Dann zog es sie, auch wegen günstigerer Verdienstmöglichkeiten, zur Deutschen Volkspolizei.
Die ersten Dienstjahre hat sie in Quedlinburg bei der Verkehrspolizei gearbeitet, überwiegend als Reguliererin auf einer viel befahrenen Kreuzung. Später war sie unter anderem bei der Kripo in Halle beschäftigt und wurde nach der Wiedervereinigung als Angestellte in den Polizeidienst übernommen.
2008 ist Anette Göhre verabschiedet worden, noch heute hilft sie Nachbarn mit fachlichem Rat. „Einmal Polizistin, immer Polizistin“, sagt sie. (mz)
Der Bräutigam dagegen erschien schneidig in Uniform vor dem Standesamt, das Paar feierte die erste sozialistische Hochzeit in Quedlinburg. Das hatte den Vorteil, dass Vater Staat die Party bezahlte. Aber, so sagt Anette Göhre in einer Offenheit, die sich sehr von mancher verdrucksten Herumeierei unterscheidet, die man zu hören bekommen kann: „Ich habe von dem Staat alles bekommen, was ich brauchte.“
Mit Herz und Seele Polizistin
Sie sei mit Herz und Seele Polizistin gewesen, die ersten sieben Jahre war sie im Einsatz als Verkehrsreglerin in Quedlinburg, danach in Halle vor dem Steintor: immer mit Stab in der Hand und weißen Stulpen bis zu den Ellbogen.
Da fällt dem gelernten DDR-Bürger entsprechenden Alters sofort die Defa-Komödie „Geliebte weiße Maus“ mit Rolf Herricht als liebenswert-unbeholfenem Verkehrspolizisten ein, die 1964 von Gottfried Kolditz gedreht wurde.
Den Film kennt Anette Göhre natürlich. Und ihren schwarz-weißen Regulierungsstab hat sie aufbewahrt wie die Geschichten, die sie auf der Kreuzung erlebt hat, bei Wind und Wetter.
Erinnerungen an ihre Zeit als Polizistin in der DDR
Acht Stunden dauerte eine Schicht, mit einer längeren Pause zur Halbzeit. Und gefährlich war es gelegentlich auch. „Ich habe manches Mal auf einem Kühler gesessen“, sagt sie, aber die guten, auch heiteren Erinnerungen überwiegen.
Zum Beispiel jene an den Fahrer eines Lastzuges, der sein Gefährt umständlich ruckelte und rangierte, bis er die Fahrertür endlich neben ihrem Platz in Stellung gebracht hatte - und ihr schließlich eine große Pampelmuse hinunterreichte.
Anette Göhre hat viel erlebt in ihren Dienstjahren. Auch Unangenehmes. Bei der Abteilung Pass- und Meldewesen hat sie gearbeitet, musste Bürgerinnen und Bürgern erklären, dass die beantragte Westreise gestrichen war.
Abgelehnt hatte sie die Stasi. Inoffizielle Mitarbeiterin wollte Anette Göhre nicht werden bei dieser Truppe. Mit denen mochte sie nicht näher zu tun haben.
Suche nach Kindermörder
Später diente sie in Halle bei der „K“, der Kriminalpolizei, und verwaltete die Straftäterkartei. Aber sie hat 1981 auch dabei geholfen, den sogenannten Kreuzworträtselmörder zu fassen.
Anette Göhre sortierte Schnipsel und Schriftproben, die schließlich zum Täter führten, der in Halle-Neustadt einen Siebenjährigen missbraucht und getötet hatte.
Unsicherheit nach der Wende
Was das Schwerste war? „Die Unsicherheit nach der Wende: Wie würde es beruflich weitergehen?“, sagt sie. Alle Dienstverhältnisse wurden aufgelöst, alle Kollegen konnten sich neu bewerben.
Anette Göhre wurde weiter beschäftigt, nunmehr im Angestelltenverhältnis. Nach einem Lehrgang in Westdeutschland war sie als Sachbearbeiterin in der Asservatenkammer tätig.
Dort werden jene Dinge, die man bei Straftätern sichergestellt hat, aufbewahrt, bis das jeweilige Verfahren abgeschlossen ist. Und dann? Geld geht an den Staat, Betäubungsmittel werden verbrannt. In Sachsen-Anhalt geschieht das in Bernburg.
Seit 2008 ist Anette Göhre in Pension
Anette Göhre ist zufrieden. 2008 ist sie aus dem Dienst bei der Polizei verabschiedet worden. Sie hat eine ruhige, gemütlich eingerichtete Wohnung, sie reist gern. Seit ihr zweiter Mann verstorben ist, lebt sie allein. Aber einen Gefährten gibt es immerhin, mit dem sie Zeit verbringt.
Manchmal fragen Nachbarn sie um Rat. Und sie hat dazu beigetragen, einen Trickbetrüger, der eine Frau um Geld prellen wollte, dingfest zu machen. „Einmal Polizistin, immer Polizistin“, sagt Anette Göhre und lacht.
Zur Kirche, der sie lange fern stand, hat sie wieder Kontakt aufgenommen. Die alten Zeiten will sie nicht zurück. Aber sie will sich auch nicht schämen dafür, im Osten geboren worden zu sein. Warum auch? Sie hat, wie viele andere Landsleute, ein anständiges Leben geführt. Und das, findet sie, soll auch mal gesagt werden. (mz)
