1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halle
  6. >
  7. Das ist der Mann hinter dem „Tagebuch der Gefühle“

Ungefiltert Das ist der Mann hinter dem „Tagebuch der Gefühle“

Wie der Werkstattpädagoge Andreas Dose Jugendliche in eine tiefe Auseinandersetzung mit der Geschichte begleitet.

Von Phillip Kampert 02.10.2021, 14:00
Pädagoge Andreas Dose von der SBH wurde mit seinen Schülern für die Reihe „Tagebuch der Gefühle“ ausgezeichnet.
Pädagoge Andreas Dose von der SBH wurde mit seinen Schülern für die Reihe „Tagebuch der Gefühle“ ausgezeichnet. (Foto: Silvio Kison)

Halle (Saale)/MZ - Über der Menora - einem siebenarmigen Leuchter und religiösen Symbol im Judentum - schwebt ein Davidstern. Auf den ersten Blick wirkt das Ausstellungsstück wie ein religiöses Gemälde, bis man die stilisierten Einschusslöcher entdeckt, die die Symbolik zugleich durchschneiden und erweitern. „Die Größe, die Formen - das ist ein genaues Abbild der Einschusslöcher in der Synagoge vom Anschlag in Halle“, erklärt Werkstattpädagoge Andreas Dose. Aber was ist der Hintergrund dieser leicht schauerlichen Malerei?

Seit zehn Jahren läuft in der „Stiftung Bildung & Handwerk“ (SBH) in Halle das Projekt „Tagebuch der Gefühle“. Dabei schreiben Jugendliche ungefiltert auf, was sie bei der Auseinandersetzung mit dem Holocaust empfinden. So wurde beispielsweise schon in Auschwitz oder beim Gespräch mit Zeitzeugen unmittelbar vom Herz ins Blatt notiert. Das titelgebende „Tagebuch der Gefühle“ ist eine anonymisierte Sammlung der Notate. Die oft kurzen, klaren Sätze der Jugendlichen sind direkt und kraftvoll: „Wir gehen weiter in die Todesbaracke 25. UNHEIMLICH. Wir erfahren ..., dass die Leute hergekommen sind, bevor sie in die Gaskammer gekommen sind.“

Seit 2011 nehmen Jugendliche verschiedener hallescher Bildungseinrichtungen freiwillig an dem Projekt teil. Mittlerweile sind drei Tagebücher erschienen, das vierte folgt im Oktober. Neben den schriftlichen Einträgen erstellen die Teilnehmer Videos, Social-Media- Inhalte oder auch das Gemälde mit dem zerschossenen Davidstern.

„Es gibt nicht mehr so viele, die über diese Zeit sprechen können“

Dieses außergewöhnliche Projekt hat im Laufe der Zeit viel Aufsehen und Lob erzeugt - und jüngst die Prämierung mit dem Margot-Friedländer-Preis. Vergangene Woche überreichte die fast 100-jährige Holocaust-Überlebende Friedländer den Jugendlichen die Ehrung in Berlin. „Es gibt nicht mehr so viele, die über diese Zeit sprechen können“, sagt Friedländer, „gebt darum bitte weiter, was ihr gehört habt. Das ist wichtig.“

Wenn Dose, Projektleiter und Werk-stattpädagoge für Metallberufe bei der SBH, über das „Tagebuch der Gefühle“ spricht, erahnt man, was für emotionale Momente er im Laufe der Zeit mit den Jugendlichen erlebt hat. „Das Einmalige an diesem Projekt ist, dass die Jugendlichen sich von sich aus für Geschichte interessieren.“ Das liege zum einen daran, dass das Thema Holocaust in vielen Bildungsbiografien nicht angemessen im schulischen Kontext behandelt wird. Gleichzeitig höre man aber in der Öffentlichkeit immer wieder davon. „Die Jugendlichen fragen sich, warum es immer noch Antisemitismus gibt und was das eigentlich genau ist.“ Mit diesen Fragen geht es dann an die Recherche, an die kreative Auseinandersetzung und an die Zeitzeugen und Gedenkorte. Es freut Dose, dass die Jugendlichen sich in ihrer Freizeit mit der Geschichte befassen - und zwar nicht nur mit dem Dritten Reich. Im bald erscheinenden vierten Tagebuchband geht es um die Nachkriegszeit in BRD und DDR und wie mit den Juden umgegangen wurde. „Viele Jugendliche sind überrascht, dass Juden in der DDR zunächst nicht als zentrale Opfergruppe des Nationalsozialismus angesehen wurden. Sie suchen dann von alleine nach Antworten in den Quellen.“

Das neue „Tagebuch der Gefühle“ wird am 9. Oktober um 14 Uhr im Roten Ochsen mit Film und Lesung vorgestellt. Zur Einheitswoche kann man außerdem bis Freitag Werke der Jugendlichen, die sie im Projekt geschaffen haben, in der SBH (Am Heizkraftwerk 10) besichtigen, täglich von 9 bis 15 Uhr.