„Es fließt Geld an VW oder die Lufthansa“ Corona-Folgen: Tanzschule aus Halle schreibt Brandbrief an Kanzlerin
Halle (Saale) - Das Parkett des Jugendstilgebäudes an der Reilstraße 59 hat zuletzt nur mit wenigen Absätzen Bekanntschaft machen dürfen. Denn Betrieb ist in der dort ansässigen Tanzschule Eichelmann seit nunmehr einem Jahr kaum möglich. Für Marcus Eichelmann, Sport- und Fitnesskaufmann mit Trainer-Lizenz und Urenkel des Gründerpaares der Tanzschule, ist es mittlerweile „fünf nach zwölf“.
Tanzschule in dritter Generation: Seit Pandemiebeginn täglicher Tanzlivestream
An dem 89 Jahre alten Familienunternehmen sind immerhin drei Generationen beteiligt. Auch neben der Unternehmerfamilie hängen nicht wenige Menschen an der Sportkultureinrichtung. Die Mitgliederzahl ihrer Tanzschule bewege sich im vierstelligen Bereich, erzählen die Eichelmanns. Von Mitgliedern würden sie wiederum nie sprechen - die „Tanzfamilie“ nennen sie sich und meinen damit nicht allein die fünf Mitglieder der Familie, die die Tanzschule bewirtschaften, sondern ihre Vielzahl an Schülern.
Dass sie diese auch in Pandemiezeiten weiterhin regelmäßig trainieren müssen, steht für alle Seiten außer Frage. „Die Leute wollen doch einfach aus dem tristen Corona-Alltag ausbrechen“, sagt Marcus Eichelmann. Deshalb bietet das Familienunternehmen einen täglichen Tanzlivestream. Von früh bis spät - knapp elf Stunden am Tag - setzt sich die Unternehmerfamilie damit auseinander - und zwar bereits seit Dezember.
Auch die Anschaffung von Equipment und Dienste von fachkundigen Technikern für mehrere Tausend Euro seien dazu nötig gewesen. „Der Livestream ist aktuell die sinnvollste und sicherste Methode, überhaupt etwas zu machen. Von unserer Tanzfamilie wird er sehr gut und dankend angenommen“, resümiert Marcus Eichelmann. Der Riesenaufwand, wie Vater Dirk Eichelmann sagt, lohne sich: 300 bis 400 Haushalte greifen auf die Videos zu, tanzen gemeinsam und halten währenddessen im implementierten Chat Kontakt. Zudem bietet die Tanzschule Privatstunden an.
Hohe Umsatzeinbrüche: Livestream ist Liebe zur Berufung und Notnagel in Corona-Zeiten
Ein Tanzpaar mit einem Lehrer zu besetzen, sei „betriebswirtschaftlich natürlich Unsinn“, macht Marcus Eichelmann deutlich. „Aber die Leute müssen und wollen üben, trainieren, dranbleiben“, sagt er. Den Aufwand, aus einem typischen Kurs mit rund 15 Tanzpaaren 15 Einzelstunden zu machen, scheint es Familie Eichelmann wert zu sein - und zwar nicht in finanzieller Hinsicht.
Was wir hier aktuell machen, hat nichts mit Geld zu tun. Wir machen das aus Empathie, Sympathie, Liebe und Berufung. Und unsere Tanzfamilie würdigt das.
so Marcus Eichelmann.
Eine dauerhafte Lösung sei all das nicht. Höchstens ein Notnagel, wie Dirk Eichelmann es formuliert. Fast täglich 16 Arbeitsstunden auf das wortwörtliche Parkett zu legen, könne kein Dauerzustand sein. Zumal das Unternehmen zeitgleich Umsatzeinbrüche von mindestens 50 Prozent verzeichne. Die Familie habe alles versucht, um den Normalbetrieb in den Tanzsälen möglichst lange aufrecht zu erhalten: Sie haben mit Masken getanzt, mit offenen Fenstern, auf abgeklebten Quadraten und gar mit anderthalb Meter langen Bambusstöcken, um Abstand zu halten.
Brandbrief an die Kanzlerin: Tanzen ist Weltkulturerbe
„Dabei ist das lächerlich“, sagt Dirk Eichelmann. „Sie berühren hier in der Tanzschule nichts außer den Boden mit den Schuhen und den eigenen Partner mit Ihren Händen. Nach dieser Logik müsste ja auch im Ehebett eine Plexiglasscheibe angebracht werden.“ In der Tanzschule würde grundsätzlich nur in festen Paarkonstellationen getanzt.
Wenigstens im Außenbereich würden Eichelmanns gern wieder trainieren können. Bisher ist dies aber nur Minderjährigen erlaubt und mit den tanzenden Erwachsenen und Senioren nicht durchführbar. Dass die Politik kaum Regung zeigt, zehrt an den Nerven der Familie.
Wenn es ihnen passt, berufen sich immer alle auf das Weltkulturerbe - und das Tanzen ist Weltkulturerbe. Aber wenn es darauf ankommt, fließt das Geld an VW oder die Lufthansa“
so empfindet es Dirk Eichelmann.
Deshalb hat die Tanzschule einen Brandbrief formuliert: „Mit Halle und Magdeburg ist alles in Ordnung. In Berlin wurden wir vergessen, deshalb haben wir den Brief an das Kanzleramt geschickt“, erklärt Marcus Eichelmann.
Tanzschulbesitzer macht die fehlende Perspektive mürbe
Darin befand sich neben dem schriftlichen Hilferuf auch ein Tanzschuh am Nagel. „Den anderen Schuh des Paars haben wir behalten, um zu zeigen, den hängen wir noch nicht an den Nagel“, so Vater Dirk. „Bis zum heutigen Zeitpunkt mussten wir keinerlei Mittel beantragen, weil wir gut über die Runden gekommen sind“, sagt Marcus Eichelmann. Es sei zwar nicht die Zeit für Investitionen, Luxus und Reichtum. Die Beiträge der festen Mitglieder würden jedoch die Fixkosten der Tanzschule decken können.
Mürbe scheint die Eichelmanns wiederum die fehlende Perspektive zu machen. Die Neuakquise habe sich völlig gegessen. Wann Hochzeiten und andere Events oder eine halbwegs normale Trainingssituation wiederkehren werden, ist gänzlich unabsehbar. Wie lange Eichelmanns noch unter den Bedingungen leben können, weiß ebenfalls niemand. Fest stehe aber: „Die Zeit ist unser größter Feind“, sagt Dirk Eichelmann. Zumal die ganze Familie an der Tanzschule hängt.
Tanzschule war seit der Gründung 1932 nie geschlossen: „Alle dreißig bis vierzig Jahre knallt es - das ist die deutsche Geschichte“
Die Existenz dreier Generationen gründet sich auf den Betrieb. Marcus Eichelmann macht deutlich: „Wir hängen alle am selben Tropf.“ „Und unser Nervenkostüm ist mehr als überstrapaziert“, ergänzt Vater Dirk. Dennoch: Die Eichelmanns wirken weniger hoffnungslos, als es in Anbetracht der Situation gerechtfertigt wäre. Das liegt auch an der Geschichte der 89 Jahre alten Tanzschule. „Alle dreißig bis vierzig Jahre knallt es - das ist die deutsche Geschichte“, konstatiert Marcus Eichelmann, „und die Tanzschule war seit der Gründung 1932 noch nie geschlossen.“
Zehntausende Menschen hätten seitdem von Eichelmanns das Tanzen gelernt. Zeitgleich seien bereits so einige Widerstände überwunden und Krisen gemeistert worden, erzählt Vater Dirk: „Wir haben alles überstanden: den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit, die Wende mit dem sportlichen und kulturellen Verfall in der Gesellschaft, die Goldgräberzeit. Jede Generation hat hier ihre Herausforderung - jetzt eben Corona.“ (mz/Anka Würz)