Blaues Kreuz in Halle Blaues Kreuz in Halle: Ein Leben für die Süchtigen

Halle (Saale) - Eigentlich gab es sie zu DDR-Zeiten nicht: Die Abgehängten, die Arbeitslosen und die Süchtigen. Vor allem für die letztere Gruppe hatte die Staatsführung keinen Plan. Die Lücke füllten stattdessen oft die kirchlichen Institutionen. In Halle war das vor allem die Suchberatung der evangelischen Stadtmission. Im Jahr 1975 machte Dorothea Philipps, damals noch Studentin, ihre ersten Erfahrungen in der Suchtberatung. Heute ist sie 64 Jahre alt, Rentnerin und hilft immer noch, wo sie kann.
Verein in der DDR verboten
„Zu DDR-Zeiten gab es offiziell von staatlicher Seite keine Hilfe für Alkoholiker“, sagt Dorothea Philipps. Aber wie konnte den Süchtigen dennoch geholfen werden? Bei der Beantwortung dieser Frage wird es ein wenig kompliziert. Oder besser: Muss man einen Blick weit zurück in die Geschichte werfen. Denn die erste offizielle Suchtberatung in der Saalestadt begann bereits 1896. Damals gründete der Pastor Josef Simsa im Gefängnis bei einem Gespräch mit einem alkoholsüchtigen Studenten den Ortsverein „Blaues Kreuz Halle“- ein Ableger des damals bereits europaweit agierenden Vereins „Blaues Kreuz“.
Von da an gab es auch in Halle eine Anlaufstelle für die Alkoholsüchtigen der Stadt. In diesem Jahr feiert der hallesche Verein, der während der DDR-Zeit verboten war, sein 120-jähriges Jubiläum. Im Jahr 1975 machte Dorothea Philipps, damals noch Studentin, ihre ersten Erfahrungen in der DDR-Version des Vereins - damals unter dem Dach der Stadtmission.
Im Jahr 1960 wurde die Arbeitsgemeinschaft zur Abwehr der Suchgefahr (AGAS) gegründet, um die Arbeit im kirchlichen Bereich fortsetzen zu können. „Wir haben aber die ganzen Jahre engen Kontakt zu den Mitgliedern des westdeutschen Blauen Kreuzes gehalten“, sagt Dorothea Philipps. Sechs Jahre arbeitete die 64-Jährige in der Suchtberatung der evangelischen Stadtmission bevor sie 1981 hauptamtlich ihre Arbeit aufnahm. Es gab Zeiten, da kannte sie alle Mitglieder in der ehemaligen DDR.
„Wir haben damals hauptsächlich Alkoholiker betreut“
„Wir haben damals hauptsächlich Alkoholiker betreut“, sagt sie. Einfach war das allerdings nicht. Der Staat habe ihre Arbeit zwar toleriert, aber immer mit einem argwöhnischen Blick darauf geschaut. Vor allem die Treffen der Selbsthilfegruppe, die ausschließlich in der Kirche stattfinden konnten, waren nicht gern gesehen. „Man musste immer damit rechnen, dass bei einem solchen Treffen auch Spitzel der Staatssicherheit anwesend waren“, sagt sie.
Aus diesem Grund habe sie damals auch für sich einige Regeln für die Gespräche mit den Alkoholikern aufgestellt: „Ich habe nie über über Politik gesprochen.“ Erlebnisse mit der Stasi gab es zuhauf. Da war der eine Besucher bei einem der Treffen in der Kirche, der seinen Stasi-Ausweis verlor. Oder die Abende, an denen Philipps merkte, dass sie beim nach Hause gehen verfolgt wurde. „Ich habe mir dann eines abends ein Herz gefasst und meinen Verfolger angesprochen“, sagt sie. Danach hat sie ihn nicht mehr gesehen.
Trotz Überwachung erinnert sie sich gern an damals, als sie noch eng mit den Betrieben zusammengearbeitet hat. „Da rief dann schon einmal der Betriebsleiter an und fragte, ob ich einen Arbeiter von zu Hause abholen kann, da der wahrscheinlich noch betrunken im Bett liegt.“ Auch verärgerte Ehefrauen kamen damals oft zu ihr. Philipps ging in solchen Fällen auch mal mit einer ihrer Kolleginnen am Abend in eine Kneipe, um den Trunkenbold nach Hause zu bringen. Ein 24-Stunden-Job eben.
Betreuung von Inhaftierten
„Ich habe mich Zeit meines Lebens auch immer um die Betreuung von alkoholsüchtigen Häftlingen gekümmert“, sagt Dorothea Philipps. Dabei ging ihre Arbeit bis zur Wende über die einfache Betreuung im Gefängnis weit hinaus. „Wir haben den Gefangenen nach ihrer Entlassung auch Wohnungen gesucht und sie mit dem Nötigsten ausgestattet“, sagt sie. Eines der wichtigsten Punkte war dabei immer, dass die Mitarbeiter die Entlassenen direkt vom Gefängnis abholten und in die neue Wohnung brachten. „Wenn der Alkoholiker gleich nach der Entlassung keinen Alkohol trank, dann hatte man gute Chancen, dass er es auch schafft“, sagt sie. Ihre Arbeit im Gefängnis war von staatlicher Seite nur toleriert. „Erst nach der Wende durfte man offiziell in den Haftanstalten arbeiten“, sagt Philipps.
„Es ist meine Berufung“, sagt sie heute. Und das merkt man ihr an, wenn die Rentnerin über ihr Leben spricht: Wenn sie den Unterschied zwischen Spiegel- und Phasentrinker erklärt oder die einzelnen Etappen, die ein Alkoholiker durchläuft bis er eigentlich süchtig wird.
Nach der Wende arbeitete Dorothea Philipps weiter als Suchtberaterin. Sie führte Schulungen durch und war von 1991 bis 1995 Leiterin und Fachkraft der mobilen Drogenprävention - einem Bundesmodellprojekt. „Dafür musste ich sogar meinen Führerschein nachmachen“, sagt die immer noch dynamische Frau, die sich auch als Rentnerin noch ehrenamtlich in der Beratung engagiert. 1998 wurde das Blaue Kreuz in Halle neu gegründet. Philipps war natürlich mit dabei. Die Arbeit als Suchberaterin habe sich seit der Wende stark gewandelt: Niemand gehe mehr in die Kneipe, um einen Süchtigen abzuholen, oder werde von einem Arbeitgeber angerufen. Das Verhalten und die Probleme der Süchtigen seien aber die gleichen. (mz)
