"Unverhüllt schön" Ausstellung "Unverhüllt schön" in Halle: Aktfotografie jenseits des Eisernen Vorhangs

Halle (Saale) - Unterschiede? Kaum. Da sehe ich mehr Gemeinsamkeiten“, befindet T. O. Immisch. Der Kustode der Sammlung Fotografie der Stiftung Moritzburg in Halle setzt damit einen entschiedenen Kontrapunkt zum verbreiteten Klischee „Freizügiger Westen - prüder Osten“ beim Thema Aktfotografie. Und Immisch weiß, wovon er spricht. Aus mehr als drei Jahrzehnten wissenschaftlicher Erfahrung speziell auch mit „Ost“-Fotografie samt zahlreicher Veröffentlichungen ist der studierte Kunsthistoriker nicht nur in Insider-Kreisen als Experte anerkannt. Wobei sich die Darstellung der „Nackerten“ ja schon an sich als schier „grenzenloses“ künstlerisches Sujet im weiten Raum zwischen Ästhetik und Pornographie darbietet. Doch galt der gesamte Osten, als er noch „rot“ war, ja gemeinhin als verklemmt und prüde. Ein, jedenfalls aus westlicher Sicht, Un-Ort für künstlerische Aktfotografie. Offenbar nichts da, nirgends, was der Kenntnisnahme wert wäre.
Der Osten Europas kommt im Buch „Die Geschichte der Aktfotografie“ nicht vor
Exemplarisch dargestellt und zu Hunderttausenden gedruckt in einem gewichtigen (500 Seiten stark, mehr als drei Kilo schwer) Kompendium mit dem Anspruch eines Universalwerks unter dem vereinnahmenden Titel „Die Geschichte der Aktfotografie“, das 2011 in Italien in den wesentlichen Weltsprachen und ein Jahr später auch auf Deutsch erschienen ist. Enthaltend Namen und Aufnahmen, die die Herausgeber für relevant hielten. Jedoch: Der Osten Europas, die „rote“ Region, kommt darin einfach nicht vor. Als hätte es dort keine Fotokünstler gegeben, die sich mit der Darstellung des menschlichen Körpers auseinandergesetzt und damit das Ihre zu diesem Teil der Kunstgeschichte geleistet hätten. So ignorant wie ärgerlich. Vor allem für die, die es besser wussten.
Der Glücksfall angesichts des offensichtlichen Defizits: Ein Verleger, den das ganz einfach ärgerte, und ein Foto-Wissenschaftler, der genau zu diesem Thema einen Schatz hütete, den es ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen galt. Der lagert in der Moritzburg. Das hallesche Kunstmuseum hatte dank glücklicher Umstände das Archiv des 1992 untergegangenen Fotokinoverlages Halle/Leipzig übernehmen können und so vor der Vernichtung gerettet. Zehntausende Aufnahmen, darunter etwa tausend Aktbilder. Aus diesem einzigartigen Fundus erwuchs die so kühne wie trotzige Idee, einen Bildband zusammenzustellen mit signifikanten Arbeiten der verkannten Ost-Künstler. Samt einer kleinen, feinen Begleitausstellung in der Moritzburg. Herausgekommen ist der Band „Unverhüllt schön. Aktfotografie aus Osteuropa 1945 - 1990“. Ein Buch zum lustvollen Durchblättern, das Seite für Seite die Immisch-These der sehr wohl fast parallel laufenden Auffassung und Herangehensweise in Sachen Aktfotografie vor Augen führt. Immer schön am Zeitgeist entlang über rund fünf Jahrzehnte. Kühl schematisch, gleichwohl nachvollziehbar anhand von Befindlichkeiten Ost wie West, ist die Entwicklung in Dezennien gefasst. Immisch charakterisiert die Erscheinungsformen in prägnanten Texten.
Moritzburg Halle: In der Ausstellung werden rund vierzig Werke von 28 Fotografinnen und Fotografen präsentiert
Ausgewählt für den Band wurden mehr als 150 Arbeiten von Fotografen aus Polen, den baltischen Staaten, der Ukraine, Weißrussland, Russland, Tschechien, dem ehemaligen Jugoslawien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Gewissermaßen als Extrakt werden in der Ausstellung rund vierzig Werke von 28 Fotografinnen und Fotografen präsentiert. Ein breites Spektrum von „braven“ Szenen am Strand oder sonstwie naturnah über Freilicht- und Studioinszenierungen bis zu surrealen Montagen und frei experimentellen Werken. Dem folgt man beim Betrachten mit dem Vergnügen der Erkenntnis, wie Nacktheit gleichsam aus der jeweiligen Zeit heraus präsentiert wird, enthüllt und dennoch umhüllt vom Zeitgeist mit seinen Moden und Auffassungen, grenzübergreifend tatsächlich.
Diesem Gedanken folgend, erscheinen die Bilder aus den gerne als vermufft diskreditierten 50er Jahren zurückhaltend, dezent. „Harmlos“ nennt Immisch diese Auffassung. Akte anonym, ohne Gesicht, die Körper eher ver- als entdeckt. Ist deshalb die Sicht jener Jahre nur verklemmt? Man kann daran auch vorsichtiges Abwägen erkennen, was sie wohl bringen mag, die neue Zeit. In den 60ern ist schon mehr „Frische“ im Bild mit souverän ungenierten Posen, auch mal direkter Erotik. Eine Prise „westlicher Dekadenz“ bringen die 70er mit mutigen Anleihen beim (offiziell verpönten) Surrealismus. Weichgezeichnete Bilder aus der Zeit benennt Immisch als „Kennzeichen einer Generation“. Zitierte Retro-Anklänge sind in den 80ern zu sehen, von Jugendstil bis Avantgarde. Künstler suchen zugleich nach neuen Formen.
Wie es weiterging? Beispiele fehlen im Archiv. „Bilder, die Bezug haben zu ,body art’ und ,performenced’, wild inszeniert“, macht Immisch als Defizite aus. Dabei gab es durchaus Künstler auch im sogenannten Ostblock, die weiter dachten. Vor allem in den vom Westen nicht so abgeschotteten Staaten wie Polen und Ungarn „schufen sie nie zuvor gesehene imaginäre Bildwelten und vollzogen einen Bruch mit fotografischen Konventionen“, kommentiert er, „der von den Mitarbeitern des Fotokinoverlages entweder nicht ausreichend wahrgenommen oder nicht hinreichend wertgeschätzt wurde.“ 1992 war, wie gesagt, ohnehin Schluss mit dem Verlag und damit der Sammlung. Umso verdienstvoller ist die Aufarbeitung dessen, was unleugbar geschaffen wurde an künstlerischer Aktfotografie in Europa-Ost, wo es denn ganz offenbar doch gar nicht so prüde zuging.
Ausstellung bis 13. November in der Moritzburg Halle, www.stiftung-moritzburg.de