Als der Pfarrer kein Taufmahl bekam
Halle/MZ. - Denn geschrieben waren sie in Sütterlin. Fast zwei Jahre ist das jetzt her. Und mittlerweile sind die Geheimnisse gelüftet - die um Paul Riebeck und viele andere außerdem. Dafür gesorgt haben die Mitarbeiter der Sütterlin-Stube auf dem Gelände des Riebeck-Stiftes in der Kantstraße.
Wunderbar anzuschauen sind die Bögen und Schnörkel des Sütterlin, die der Volksmund auch "deutsche Schrift" nannte. Mir den heute gebräuchlichen lateinischen Schriftzügen aber hat sie kaum Ähnlichkeit. Doch die Chance war groß, Schriftkundige zu finden.
Schließlich wurden die vom Berliner Grafiker Ludwig Sütterlin entwickelten Zeichen zwischen 1915 und 1941 an Schulen gelehrt. Kurzerhand ging die Stiftung mit der Frage "Wer kann Sütterlin" an die Öffentlichkeit, und binnen kürzester Zeit meldeten sich rund 160 Leute.
Unter ihnen war auch der einstige Diplomingenieur Frank Hensling. Er konnte sich noch gut an die Schrift aus seiner Kindheit erinnern. In der 84-jährigen ehemaligen Reiseleiterin Maria Breitenborn, der Sekretärin Anita Hohmann und der Zahnärztin Dr. Brigitte Tertsch fand er Menschen, die ebenso viel Lust auf alte Dokumente hatten wie er. Im Frühjahr 2006 übernahmen die Vier ehrenamtlich die Organisation der neu eröffneten Sütterlin-Stube unterm Dach des Paul-Riebeck-Stiftes.
Etwa 60 vornehmlich ältere Menschen sind mit ihnen am Ball geblieben. Sie übersetzen Schriften, die mittlerweile bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Längst ist die Zahl der Auftraggeber gestiegen. Der Heimatverein von Kütten gehört dazu. Er fand zum Beispiel alte Kirchenbücher in Pastors Waschmaschine. Doch neben Taufen und den Trauungen waren dereinst offenbar auch ganz andere Dinge wichtig. So fand sich unter anderem auch ein Schriftwechsel zwischen Bürgermeister und Pfarrer über Möglichkeiten, sich des ständig betrunkenen Schulleiters zu entledigen.
Und Übersetzerin Susanne Rühlmann erzählt noch eine andere Chronik-Geschichte. So fragte einst ein Pfarrer seinen Vorgesetzten, ob er Anspruch auf einen Geldbetrag - quasi als Entschädigung - habe. Denn: Nach der Taufe habe die Familie zwar den Küster und den Lehrer zur "Taufgasterei" geladen, nicht aber den Pfarrer selbst. Der hingegen hatte auf das Mahl gehofft. Sein Vorratsschrank war leer.
Freilich haben die meisten Aufträge einen ernsteren Hintergrund. So verfügt der Förderverein des Zoologischen Instituts zwar über eine Sammlung von rund 36 000 Schmetterlingen und Käfern. Ihre Fundorte aber hielt man in Sütterlin fest. Mitarbeiter von Archiven und Fördervereinen gehen inzwischen in der Sütterlinstube ein und aus. Sie sind bei weitem nicht alle aus Sachsen-Anhalt. Die vier Servicekräfte um Frank Hensling portionieren die mitgebrachten Schriften und reichen sie an die Übersetzer weiter. Um die alte Schrift am Leben zu halten und auch junge Menschen dafür zu interessieren, werden Schulungen angeboten.
Hensling weiß, wie fesselnd das Abtauchen in die alten Schriftstücke sein kann. Denn dann wird Geschichte lebendig. Alte Poesiealben und Liebesbriefe lassen schmunzeln. Aber es gibt auch erschütternde Dinge. "Wir bekamen Feldpostbriefe und jüngst Briefe eines Buchenwald-Häftlings." Letztere hat ein Privatmann in der Stube abgegeben. Die zensierten Zeilen werden jetzt übersetzt.
Die Sütterlin-Stube ist jeweils donnerstags in der Zeit von 10 bis 12 und 14 bis 16 Uhr geöffnet.